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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Hand Correcturen und Bemerkungen angebracht sind, und sodann die in dem
Kreise von Chopins intimsten Schülern fortlebende Tradition. Die letztere
freilich bildet an sich ein etwas gefährliches Mittel; in den meisten Fällen
würde eine zweifelhafte Stelle einer Chopinschen Komposition nach den Lesarten,
die in den Köpfen und Fingern seiner Schüler umgehen, gestalte" wollen, eine
nicht viel geringere Kühnheit sein, als wenn man den Text Goethes oder Schil¬
lers nach dem -- wir wollen gar nicht sagen im Volksmunde, sondern selbst
bei den gebildetsten Schriftstellern unserer Tage umgebenden Citaten "emendiren"
wollte. Welche Unsumme von Nachlässigkeiten im Citiren findet man tagtäglich
auch bei Schriftsteller", bei denen man etwas Besseres erwarten sollte! Genaue
Citate gehören zu den größten Seltenheiten. Und doch würde jeder, der citirt,
bereit sein, einen Eid darauf abzulegen, daß er richtig citirt. Das menschliche
Gedächtniß ist eben ein gar zu unzuverlässiges Ding und kann schriftlichen
Zeugnissen gegenüber nur in ganz besonders gearteten Ausnahmefällen größere
Glaubwürdigkeit beanspruchen als diese. Solche Fälle sind ohne Zweifel denk¬
bar, und ein Unterschied ist es ja immer noch, ob einer nach zehn- und zwanzig-
maliger Lectüre eine Dichterstelle citirt oder einen Passus aus einer musikali¬
schen Composition, den er früher zehn und zwanzig Mal unter des Componisten
eigner Aufsicht gespielt hat. Ein viel größerer Werth aber ruht natürlich in
den von Chopins eigner Hand in Originaldrucken angebrachten Aenderungen.

Nach den vorliegenden Prospecten scheint es nun, daß in dieser Richtung
namentlich die Kistnersche und die Peterssche Ausgabe hervorragendes Interesse
werden beanspruchen dürfen. Der Herausgeber der Kistnerschen Ausgabe, Carl
Mikuli, Director des galizischen Musikvereins in Lemberg, ein Schüler Chopins,
besitzt selbst eine Anzahl Hefte der Pariser Ausgabe, in denen Chopin beim
Unterrichte Mikulis eigenhändig Stichfehler verbessert hat, daneben solche, in
denen Mikuli während den Unterrichtsstunden anderer Schüler, denen er bei¬
wohnen durfte, Chopins Bemerkungen sich eingetragen hat. Ebenso sind in
seinem Besitz mehrere, mit zahlreichen eigenhändigen Correcturen Chopins ver¬
sehene Bände, welche die verstorbene Gräfin Delfine Potocka, eine vieljährige
Schülerin und Freundin Chopins, ihm zum Geschenk gemacht hat. Zwei andere
Schülerinnen des Meisters, Frau Marceline Fürstin Czartoryska in Krakau
und Frau Friderike Streicher in Wien -- 0x>. 46 ist der letzteren gewidmet --,
die beide während eines mehrjährigen Unterrichts und auch sonst Gelegenheit
hatten, ihren Lehrer seine Kompositionen vortragen zu hören, bewahren gleich¬
falls in ihren Notenheften nicht wenige Correcturen und Anmerkungen von
Chopins Hand, die der Herausgeber vergleichen konnte, kamen ihm aber auch
mit bloßen Erinnerungen zu Hilfe, und Aufschlüsse der letzteren, wie gesagt,
etwas gefährlichen Art sind dem Herausgeber auch von Seiten andrer hervor-


Hand Correcturen und Bemerkungen angebracht sind, und sodann die in dem
Kreise von Chopins intimsten Schülern fortlebende Tradition. Die letztere
freilich bildet an sich ein etwas gefährliches Mittel; in den meisten Fällen
würde eine zweifelhafte Stelle einer Chopinschen Komposition nach den Lesarten,
die in den Köpfen und Fingern seiner Schüler umgehen, gestalte» wollen, eine
nicht viel geringere Kühnheit sein, als wenn man den Text Goethes oder Schil¬
lers nach dem — wir wollen gar nicht sagen im Volksmunde, sondern selbst
bei den gebildetsten Schriftstellern unserer Tage umgebenden Citaten „emendiren"
wollte. Welche Unsumme von Nachlässigkeiten im Citiren findet man tagtäglich
auch bei Schriftsteller«, bei denen man etwas Besseres erwarten sollte! Genaue
Citate gehören zu den größten Seltenheiten. Und doch würde jeder, der citirt,
bereit sein, einen Eid darauf abzulegen, daß er richtig citirt. Das menschliche
Gedächtniß ist eben ein gar zu unzuverlässiges Ding und kann schriftlichen
Zeugnissen gegenüber nur in ganz besonders gearteten Ausnahmefällen größere
Glaubwürdigkeit beanspruchen als diese. Solche Fälle sind ohne Zweifel denk¬
bar, und ein Unterschied ist es ja immer noch, ob einer nach zehn- und zwanzig-
maliger Lectüre eine Dichterstelle citirt oder einen Passus aus einer musikali¬
schen Composition, den er früher zehn und zwanzig Mal unter des Componisten
eigner Aufsicht gespielt hat. Ein viel größerer Werth aber ruht natürlich in
den von Chopins eigner Hand in Originaldrucken angebrachten Aenderungen.

Nach den vorliegenden Prospecten scheint es nun, daß in dieser Richtung
namentlich die Kistnersche und die Peterssche Ausgabe hervorragendes Interesse
werden beanspruchen dürfen. Der Herausgeber der Kistnerschen Ausgabe, Carl
Mikuli, Director des galizischen Musikvereins in Lemberg, ein Schüler Chopins,
besitzt selbst eine Anzahl Hefte der Pariser Ausgabe, in denen Chopin beim
Unterrichte Mikulis eigenhändig Stichfehler verbessert hat, daneben solche, in
denen Mikuli während den Unterrichtsstunden anderer Schüler, denen er bei¬
wohnen durfte, Chopins Bemerkungen sich eingetragen hat. Ebenso sind in
seinem Besitz mehrere, mit zahlreichen eigenhändigen Correcturen Chopins ver¬
sehene Bände, welche die verstorbene Gräfin Delfine Potocka, eine vieljährige
Schülerin und Freundin Chopins, ihm zum Geschenk gemacht hat. Zwei andere
Schülerinnen des Meisters, Frau Marceline Fürstin Czartoryska in Krakau
und Frau Friderike Streicher in Wien — 0x>. 46 ist der letzteren gewidmet —,
die beide während eines mehrjährigen Unterrichts und auch sonst Gelegenheit
hatten, ihren Lehrer seine Kompositionen vortragen zu hören, bewahren gleich¬
falls in ihren Notenheften nicht wenige Correcturen und Anmerkungen von
Chopins Hand, die der Herausgeber vergleichen konnte, kamen ihm aber auch
mit bloßen Erinnerungen zu Hilfe, und Aufschlüsse der letzteren, wie gesagt,
etwas gefährlichen Art sind dem Herausgeber auch von Seiten andrer hervor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/83>, abgerufen am 25.08.2024.