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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Träger nichts gemeinsam haben als das staatsbürgerliche Recht, während im Centrum
des Gemüthslebens bei einem Jeden eine andere Kraft herrscht. Die Einen graviti-
ren nach Rom, die Andern nach einem localisirten Palästina, die Andern gar nach
einem zur Welt erweiterten Palästina, noch Andere nach dem Gelde mit dem
Wahlspruch: Hdi pscmliia,, ibi xatri^ u. s. w. Das achtzehnte Jahrhundert glaubte
an die Religion der Humanität und wollte durch diese die positiven Religionen er¬
setzen, indem es sie vorläufig bei Seite stellte. Das neunzehnte Jahrhundert, d. h.
die herrschende Meinung desselben, hat keine Religion und meint, die Religion könne
der Laune des Privatgeschmacks überlassen werden. Da zeigt sich nun, daß auf
diesem angeblich privaten Boden eine Weltmacht ihre alten Wurzeln stetig erobernd
weiter treibt. Der Culturkampf ist das erste Wiedererwachen der Einsicht, daß
die Religion, von einer kurzsichtigen Politik zum Gegenstande der staatsbürger¬
lichen Willkür gemacht, ihrerseits diese Willkür überwältigt und erobernd
gegen den kurzsichtigen Staat vorgeht. Nicht die Religion, sondern der Staat
wird zum flugsandartigen Gebilde, wenn er nicht aus dem Centrum des
geistigen Daseins hervorwächst und in diesem seine Wurzeln hat. In der
Judenfrage wiederholt sich die Erscheinung des Culturkampfes nur einer andern
Glaubensform gegenüber. Mit dem durch unweise Gesetze in seine Hand ge¬
drückten Schein, daß Religion und Abstammung für den Staatsbürger nicht
gelten, überschüttet der Jude deu deutschen Genius in seinem Glauben, seiner
Sitte, seinem nationalen Streben mit dem Hohn des Fremdlings, der sich mit
seinem staatsbürgerlichen Schein, mit seiner Rücksichtslosigkeit und Schlauheit,
mit seinem Kapital vor allem als Herrn auf deutschem Boden über deutsche
Arbeit fühlt. Daß dem Deutschen dabei unbehaglich zu Muthe wird, ist wahr¬
haftig uicht zu verwundern. Aber eine Judenhetze ist dagegen nicht das rechte
Mittel; noch weniger freilich verfängt eine Moralpredigt an die Juden, wie sie
der tapfere, wackere Treitschke gehalten. Wenn der Deutsche Herr in seinen:
Hause werden will, so muß er vor allem ein Mensch aus einem Gusse wer¬
den. Er muß es endlich mit seinem Verstände begreifen, daß es keine Geistes¬
bildung ohne Religion giebt, daß ohne Religion die Bildung höchstens aus
haltlosen Fragmenten besteht. Goethe sagte: "Wer Wissenschaft und Kunst be¬
sitzt, hat auch Religion." Er meint natürlich die wahre Wissenschaft und wahre
Kunst, die ihrem Wesen nach religiös sind. Die neue Verfassung der evange¬
lischen Kirche Preußens hat einen Proceß der Verständigung über die religiös¬
kirchliche Frage eingeleitet, der allerdings ein schweres Hinderniß in einer
Partei findet, welche die nachlutherische Entartung der evangelischen Lehre
zum Richtmaß der Schriften der Reformatoren und selbst der heiligen Schrift
macht, sich selbst aber jede Freiheit der Auslegung vorbehält. Diese Partei
wird keine lebendige Kirche bauen, sondern die zum Leben erwachen wollende


Träger nichts gemeinsam haben als das staatsbürgerliche Recht, während im Centrum
des Gemüthslebens bei einem Jeden eine andere Kraft herrscht. Die Einen graviti-
ren nach Rom, die Andern nach einem localisirten Palästina, die Andern gar nach
einem zur Welt erweiterten Palästina, noch Andere nach dem Gelde mit dem
Wahlspruch: Hdi pscmliia,, ibi xatri^ u. s. w. Das achtzehnte Jahrhundert glaubte
an die Religion der Humanität und wollte durch diese die positiven Religionen er¬
setzen, indem es sie vorläufig bei Seite stellte. Das neunzehnte Jahrhundert, d. h.
die herrschende Meinung desselben, hat keine Religion und meint, die Religion könne
der Laune des Privatgeschmacks überlassen werden. Da zeigt sich nun, daß auf
diesem angeblich privaten Boden eine Weltmacht ihre alten Wurzeln stetig erobernd
weiter treibt. Der Culturkampf ist das erste Wiedererwachen der Einsicht, daß
die Religion, von einer kurzsichtigen Politik zum Gegenstande der staatsbürger¬
lichen Willkür gemacht, ihrerseits diese Willkür überwältigt und erobernd
gegen den kurzsichtigen Staat vorgeht. Nicht die Religion, sondern der Staat
wird zum flugsandartigen Gebilde, wenn er nicht aus dem Centrum des
geistigen Daseins hervorwächst und in diesem seine Wurzeln hat. In der
Judenfrage wiederholt sich die Erscheinung des Culturkampfes nur einer andern
Glaubensform gegenüber. Mit dem durch unweise Gesetze in seine Hand ge¬
drückten Schein, daß Religion und Abstammung für den Staatsbürger nicht
gelten, überschüttet der Jude deu deutschen Genius in seinem Glauben, seiner
Sitte, seinem nationalen Streben mit dem Hohn des Fremdlings, der sich mit
seinem staatsbürgerlichen Schein, mit seiner Rücksichtslosigkeit und Schlauheit,
mit seinem Kapital vor allem als Herrn auf deutschem Boden über deutsche
Arbeit fühlt. Daß dem Deutschen dabei unbehaglich zu Muthe wird, ist wahr¬
haftig uicht zu verwundern. Aber eine Judenhetze ist dagegen nicht das rechte
Mittel; noch weniger freilich verfängt eine Moralpredigt an die Juden, wie sie
der tapfere, wackere Treitschke gehalten. Wenn der Deutsche Herr in seinen:
Hause werden will, so muß er vor allem ein Mensch aus einem Gusse wer¬
den. Er muß es endlich mit seinem Verstände begreifen, daß es keine Geistes¬
bildung ohne Religion giebt, daß ohne Religion die Bildung höchstens aus
haltlosen Fragmenten besteht. Goethe sagte: „Wer Wissenschaft und Kunst be¬
sitzt, hat auch Religion." Er meint natürlich die wahre Wissenschaft und wahre
Kunst, die ihrem Wesen nach religiös sind. Die neue Verfassung der evange¬
lischen Kirche Preußens hat einen Proceß der Verständigung über die religiös¬
kirchliche Frage eingeleitet, der allerdings ein schweres Hinderniß in einer
Partei findet, welche die nachlutherische Entartung der evangelischen Lehre
zum Richtmaß der Schriften der Reformatoren und selbst der heiligen Schrift
macht, sich selbst aber jede Freiheit der Auslegung vorbehält. Diese Partei
wird keine lebendige Kirche bauen, sondern die zum Leben erwachen wollende


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/54>, abgerufen am 22.07.2024.