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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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zu arbeiten ist die Aufgabe Vieler, auch wir suchen unser bescheidenes Theil
davon auf uns zu nehmen.

Ein Hauptthema unserer Selbstaufklärung bleibt die Frage: wie der ansehn¬
liche und ehrenhafte Theil des deutschen Volkes, welcher den Ausdruck seines Stre-
bens bisher in dem Liberalismus -- wir meinen den Liberalismus, welcher im
Gegensatz zur Demokratie gedacht wird -- seinen Ausdruck suchte, sich auseinander¬
setzen wird mit dein Leben und Wirken des Kanzlers, das dem bisherigen Ideal des
Liberalismus widerspricht. Lange hat man gemeint, das Wirken des Kanzlers sei
nur eine Episode, nach deren Ablauf man gar nicht anders könne, als in den
Hafen des souverainen Parlamentarismus einlaufen. Man wird nun doch nach¬
gerade an dieser Zuversicht irre. Und an wie vielen andern Dingen noch! Es
wird eine dankbare Thätigkeit sein, an der Aufgabe dieser Selbstverständigung
mitzuarbeiten. Das muß im Einzelnen versucht werden. Heute wollen wir
einen Puukt berühren, mit dem Treitschke seine Novemberbetrachtung schloß,
und der seitdem einen gewaltigen Staub aufgewirbelt: wir meinen die soge¬
nannte Judenfrage. Treitschke führte aus, daß die heftige Bewegung gegen das
Judenthum, welche seit einiger Zeit im Wachsen ist, nicht eine bloß gemachte
sein könne, und suchte die Erscheinung aus der Beschaffenheit und Stärke der
jüdischen Einwanderung, welche uns nach Deutschland aus den Westprovinzen
Rußlands kommt, zu erkläre". Er schloß diese unzweifelhaft richtige Darstellung
mit dem indirecten Eingeständniß, daß er kein Mittel gegen das Uebel wisse.
Denn was konnte es anders bedeuten, wenn er den Juden empfahl, sich ein
wenig Pietät und Bescheidenheit gegen deutsches Wesen anzueignen? Ja Prosit,
kann man da nur sagen. Aber es ist unglaublich, was die paar Worte aus
dem Munde Treitschkes bereits für eiuen Lärm erregt haben. Es regnet Ent¬
gegnungen zunächst aus dem Judenlager des fanatischen Deutschenhasses, dann
aber auch von Juden, welche geistig Deutsche zu sein beanspruchen, wie Paulus
Cassel, Harry Breslau u. a.

Wahrscheinlich verläuft dieser Lärm, wie lange er auch noch andauern
möge, doch für jetzt ziellos. Aber er ist dennoch als ein lehrreiches und darum
als ein werthvolles Symptom zu betrachten, das uns klüger machen und daher
zu unserer Rettung beitragen wird, wem: wir es richtig verstehen.

Die neuere deutsche Judenfrage -- was wir jetzt sagen wollen, klingt para¬
dox, ist es aber nicht -- ist das natürliche Reis vom Stamme des Cultur¬
kampfes. Wie immer geartet das vorläufige Ende des Culturkampfes sein möge,
er wird uns eine Einsicht hinterlassen, deren Werth unschätzbar sein wird, wenn
wir noch die Fähigkeit haben, sie zu benutzen. Die Einsicht aber ist diese: es
ist eine der leersten und gefährlichsten Abstractionen des Liberalismus, zu wühuen,
der nationale Staat könne auf einer staatsbürgerlichen Gesellschaft ruhen, deren


zu arbeiten ist die Aufgabe Vieler, auch wir suchen unser bescheidenes Theil
davon auf uns zu nehmen.

Ein Hauptthema unserer Selbstaufklärung bleibt die Frage: wie der ansehn¬
liche und ehrenhafte Theil des deutschen Volkes, welcher den Ausdruck seines Stre-
bens bisher in dem Liberalismus — wir meinen den Liberalismus, welcher im
Gegensatz zur Demokratie gedacht wird — seinen Ausdruck suchte, sich auseinander¬
setzen wird mit dein Leben und Wirken des Kanzlers, das dem bisherigen Ideal des
Liberalismus widerspricht. Lange hat man gemeint, das Wirken des Kanzlers sei
nur eine Episode, nach deren Ablauf man gar nicht anders könne, als in den
Hafen des souverainen Parlamentarismus einlaufen. Man wird nun doch nach¬
gerade an dieser Zuversicht irre. Und an wie vielen andern Dingen noch! Es
wird eine dankbare Thätigkeit sein, an der Aufgabe dieser Selbstverständigung
mitzuarbeiten. Das muß im Einzelnen versucht werden. Heute wollen wir
einen Puukt berühren, mit dem Treitschke seine Novemberbetrachtung schloß,
und der seitdem einen gewaltigen Staub aufgewirbelt: wir meinen die soge¬
nannte Judenfrage. Treitschke führte aus, daß die heftige Bewegung gegen das
Judenthum, welche seit einiger Zeit im Wachsen ist, nicht eine bloß gemachte
sein könne, und suchte die Erscheinung aus der Beschaffenheit und Stärke der
jüdischen Einwanderung, welche uns nach Deutschland aus den Westprovinzen
Rußlands kommt, zu erkläre». Er schloß diese unzweifelhaft richtige Darstellung
mit dem indirecten Eingeständniß, daß er kein Mittel gegen das Uebel wisse.
Denn was konnte es anders bedeuten, wenn er den Juden empfahl, sich ein
wenig Pietät und Bescheidenheit gegen deutsches Wesen anzueignen? Ja Prosit,
kann man da nur sagen. Aber es ist unglaublich, was die paar Worte aus
dem Munde Treitschkes bereits für eiuen Lärm erregt haben. Es regnet Ent¬
gegnungen zunächst aus dem Judenlager des fanatischen Deutschenhasses, dann
aber auch von Juden, welche geistig Deutsche zu sein beanspruchen, wie Paulus
Cassel, Harry Breslau u. a.

Wahrscheinlich verläuft dieser Lärm, wie lange er auch noch andauern
möge, doch für jetzt ziellos. Aber er ist dennoch als ein lehrreiches und darum
als ein werthvolles Symptom zu betrachten, das uns klüger machen und daher
zu unserer Rettung beitragen wird, wem: wir es richtig verstehen.

Die neuere deutsche Judenfrage — was wir jetzt sagen wollen, klingt para¬
dox, ist es aber nicht — ist das natürliche Reis vom Stamme des Cultur¬
kampfes. Wie immer geartet das vorläufige Ende des Culturkampfes sein möge,
er wird uns eine Einsicht hinterlassen, deren Werth unschätzbar sein wird, wenn
wir noch die Fähigkeit haben, sie zu benutzen. Die Einsicht aber ist diese: es
ist eine der leersten und gefährlichsten Abstractionen des Liberalismus, zu wühuen,
der nationale Staat könne auf einer staatsbürgerlichen Gesellschaft ruhen, deren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/53>, abgerufen am 22.07.2024.