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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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politische Briefe.
^. Das Selbsturtheil des deutschen Volkes.

Im Novemberhefte der "Preußischen Jahrbücher" schrieb Heinrich v. Treitschke
folgende Worte: "Unterdessen arbeitet in den Tiefen unseres Volkes eine wun¬
derbare, mächtige Erregung. Es ist, als ob die Nation sich auf sich selber besänne,
unbarmherzig mit sich ins Gericht ginge. Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen,
die letzten Monate im Ausland verlebte und nun plötzlich wieder eintritt in die
stürmische deutsche Welt, der erschrickt fast vor diesem Erwachen des Vvlksge-
wissens, vor diesen tausend Stimmen, die sich untereinander entschuldigen oder
verklagen. Der Hergang ist um so erstaunlicher, da er sich fast ganz unab¬
hängig von der Presse vollzieht; denn noch me sind unsere Zeitungen so wenig
ein treues Spiegelbild der öffentlichen Meinung gewesen. Wenn man die
Mehrzahl der deutschen Blätter durchmustert, so sollte man meinen, die liberalen
Wunschzettel der sechziger Jahre und der naive Glaube an die unfehlbare sitt¬
liche Macht der Mdung/ beherrschten noch immer unser Volk. In Wahrheit
steht es anders."

Die Beobachtung, welche H, v. Treitschke gemacht zu haben glaubt, drängt
sich auch Anderen gebieterisch auf. Es geht ein Heer von Zweifeln durch die
gebildete deutsche Welt, ob man auf dem richtigen Wege sei. Dabei aber --
und das hätte Treitschke hinzufügen können -- ist unter den ehrlichen und ver¬
ständigen Leuten kein Einziger, den der verächtliche Köder der Fortschrittspartei
lockte: an Allem, was an unserm Leben unrichtig und bedenklich ist, sei ledig¬
lich der Reichskanzler schuld; man solle nur tapfer "ach dem fortschrittlichen
Recept curiren, um schleunigst und bequem ins Paradies zu gelangen.

Mau hat für diesen frechen Schwindel kaum ein Achselzucken, so sehr sind
die Gedanken auf ernste Dinge gerichtet. Man begreift und man gesteht sich
auch, daß in den beiden letzten Jahrzehnten für das deutsche Volk gearbeitet wor¬
den ist, daß ihm Geschenke historischer Thaten zu Theil geworden sind, wie kein
Volk ein ähnliches Angebinde so leicht in seinen Erinnerungen findet. Wenn
nun dennoch so Vieles mangelhaft geordnet erscheint, so sieht man einerseits,
wie weit man auf dem Wege der großen Völker zurückgeblieben war. Man
sieht aber auch andrerseits, wieviel man an der eigenen Erziehung nachzuholen
hat. Diese letztere Selbsterkenntniß ist werthvoll. Aber das Urtheil des deut¬
scheu Volkes über die Mängel seiner Erziehung ist eben erst im Entstehen, ist
in einer schwankenden, heftigen Gährung begriffen. Wer dieses Urtheil läutern,
klären, zu festen Einsichten verdichten könnte, der thäte ein großes Werk. Daran


politische Briefe.
^. Das Selbsturtheil des deutschen Volkes.

Im Novemberhefte der „Preußischen Jahrbücher" schrieb Heinrich v. Treitschke
folgende Worte: „Unterdessen arbeitet in den Tiefen unseres Volkes eine wun¬
derbare, mächtige Erregung. Es ist, als ob die Nation sich auf sich selber besänne,
unbarmherzig mit sich ins Gericht ginge. Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen,
die letzten Monate im Ausland verlebte und nun plötzlich wieder eintritt in die
stürmische deutsche Welt, der erschrickt fast vor diesem Erwachen des Vvlksge-
wissens, vor diesen tausend Stimmen, die sich untereinander entschuldigen oder
verklagen. Der Hergang ist um so erstaunlicher, da er sich fast ganz unab¬
hängig von der Presse vollzieht; denn noch me sind unsere Zeitungen so wenig
ein treues Spiegelbild der öffentlichen Meinung gewesen. Wenn man die
Mehrzahl der deutschen Blätter durchmustert, so sollte man meinen, die liberalen
Wunschzettel der sechziger Jahre und der naive Glaube an die unfehlbare sitt¬
liche Macht der Mdung/ beherrschten noch immer unser Volk. In Wahrheit
steht es anders."

Die Beobachtung, welche H, v. Treitschke gemacht zu haben glaubt, drängt
sich auch Anderen gebieterisch auf. Es geht ein Heer von Zweifeln durch die
gebildete deutsche Welt, ob man auf dem richtigen Wege sei. Dabei aber —
und das hätte Treitschke hinzufügen können — ist unter den ehrlichen und ver¬
ständigen Leuten kein Einziger, den der verächtliche Köder der Fortschrittspartei
lockte: an Allem, was an unserm Leben unrichtig und bedenklich ist, sei ledig¬
lich der Reichskanzler schuld; man solle nur tapfer «ach dem fortschrittlichen
Recept curiren, um schleunigst und bequem ins Paradies zu gelangen.

Mau hat für diesen frechen Schwindel kaum ein Achselzucken, so sehr sind
die Gedanken auf ernste Dinge gerichtet. Man begreift und man gesteht sich
auch, daß in den beiden letzten Jahrzehnten für das deutsche Volk gearbeitet wor¬
den ist, daß ihm Geschenke historischer Thaten zu Theil geworden sind, wie kein
Volk ein ähnliches Angebinde so leicht in seinen Erinnerungen findet. Wenn
nun dennoch so Vieles mangelhaft geordnet erscheint, so sieht man einerseits,
wie weit man auf dem Wege der großen Völker zurückgeblieben war. Man
sieht aber auch andrerseits, wieviel man an der eigenen Erziehung nachzuholen
hat. Diese letztere Selbsterkenntniß ist werthvoll. Aber das Urtheil des deut¬
scheu Volkes über die Mängel seiner Erziehung ist eben erst im Entstehen, ist
in einer schwankenden, heftigen Gährung begriffen. Wer dieses Urtheil läutern,
klären, zu festen Einsichten verdichten könnte, der thäte ein großes Werk. Daran


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[0052] politische Briefe. ^. Das Selbsturtheil des deutschen Volkes. Im Novemberhefte der „Preußischen Jahrbücher" schrieb Heinrich v. Treitschke folgende Worte: „Unterdessen arbeitet in den Tiefen unseres Volkes eine wun¬ derbare, mächtige Erregung. Es ist, als ob die Nation sich auf sich selber besänne, unbarmherzig mit sich ins Gericht ginge. Wer, wie der Schreiber dieser Zeilen, die letzten Monate im Ausland verlebte und nun plötzlich wieder eintritt in die stürmische deutsche Welt, der erschrickt fast vor diesem Erwachen des Vvlksge- wissens, vor diesen tausend Stimmen, die sich untereinander entschuldigen oder verklagen. Der Hergang ist um so erstaunlicher, da er sich fast ganz unab¬ hängig von der Presse vollzieht; denn noch me sind unsere Zeitungen so wenig ein treues Spiegelbild der öffentlichen Meinung gewesen. Wenn man die Mehrzahl der deutschen Blätter durchmustert, so sollte man meinen, die liberalen Wunschzettel der sechziger Jahre und der naive Glaube an die unfehlbare sitt¬ liche Macht der Mdung/ beherrschten noch immer unser Volk. In Wahrheit steht es anders." Die Beobachtung, welche H, v. Treitschke gemacht zu haben glaubt, drängt sich auch Anderen gebieterisch auf. Es geht ein Heer von Zweifeln durch die gebildete deutsche Welt, ob man auf dem richtigen Wege sei. Dabei aber — und das hätte Treitschke hinzufügen können — ist unter den ehrlichen und ver¬ ständigen Leuten kein Einziger, den der verächtliche Köder der Fortschrittspartei lockte: an Allem, was an unserm Leben unrichtig und bedenklich ist, sei ledig¬ lich der Reichskanzler schuld; man solle nur tapfer «ach dem fortschrittlichen Recept curiren, um schleunigst und bequem ins Paradies zu gelangen. Mau hat für diesen frechen Schwindel kaum ein Achselzucken, so sehr sind die Gedanken auf ernste Dinge gerichtet. Man begreift und man gesteht sich auch, daß in den beiden letzten Jahrzehnten für das deutsche Volk gearbeitet wor¬ den ist, daß ihm Geschenke historischer Thaten zu Theil geworden sind, wie kein Volk ein ähnliches Angebinde so leicht in seinen Erinnerungen findet. Wenn nun dennoch so Vieles mangelhaft geordnet erscheint, so sieht man einerseits, wie weit man auf dem Wege der großen Völker zurückgeblieben war. Man sieht aber auch andrerseits, wieviel man an der eigenen Erziehung nachzuholen hat. Diese letztere Selbsterkenntniß ist werthvoll. Aber das Urtheil des deut¬ scheu Volkes über die Mängel seiner Erziehung ist eben erst im Entstehen, ist in einer schwankenden, heftigen Gährung begriffen. Wer dieses Urtheil läutern, klären, zu festen Einsichten verdichten könnte, der thäte ein großes Werk. Daran

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/52>, abgerufen am 22.07.2024.