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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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ungleiche Hälften, ungleich namentlich auch insofern die von links ihm melkende
Moesci, die ihm vom Bernardin eine beträchtliche Massermeuge zuführt, politisch
dem Canton Graubündten angehört. Die Verzasea dagegen und die Maggia,
letztere dem Tessin an Größe und reißenden Laufe fast ebenbürtig, ergießen sich
unmittelbar in den Langensee. Demnach wird die Ostgrenze durch die Wasser¬
scheide zwischen Moesa und Liro, einem Nebenfluß der Maira (Comersee), die
Westgrenze aber durch den Gebirgskamm zwischen der Maggia und dem Tone,
ebenfalls einem Vasallen des Lago maggiore, gebildet. Mit zwei spitzen Winkeln
dringt keilförmig Italien in das schweizerische Gebiet ein, wie denn auch die
ItaliMissimi ihr Verlangen nach der seit nahezu 400 Jahren mit der Schweiz
verbundenen Landschaft oft genug geäußert haben.

Wer vom Gotthard aus Airolo betritt, muß vorläufig das Livinenthal
(den obern Tessin) entweder durchwandern oder mit der Post durchfahren, denn
erst bis Biasea ist die südliche Zufahrtslinie des Gotthard vollendet. Biasea
ist eine alte Stadt mit kleinen schmutzigen Häusern, aber in Folge seiner neuen
Eigenschaft als Station in einem Verjüngungsproeeß begriffen; schon hat es
einige stattliche Hotels mit Omnibus ü. is, Aars und werbenden Herolden in
Livree. Unmittelbar über der Ortschaft erhebt sich die steile Cima ti Biasea,
geschmückt mit einem herrlichen Wasserfall, welcher aus einem kleinen See un¬
mittelbar unter dein Gipfel des Berges in fünf großen Sprüngen herabstürzt.
Die Vegetation ist hier schon ganz südlich; mächtige Kastanienbäume breiten ihre
Zweige aus und liefern eine reiche Fülle jener Früchte, die uns Nordländern
als Delicatesse gelten, während sie in diesem Thale den ärmeren Familien zur
gewöhnlichen Kost dienen und die Stelle der Kartoffel vertreten. Polenta und
Kastanien, Kastanien und Polenta -- das ist der ganze Küchenhorizont dieser
Gebirgsbewohner. Nur der Umstand, daß das Holz des Kastanienbaumes zu
Feuerungs- und Gewerbszwecken fast untauglich ist, hat ihn vor dem Schicksal
seines Genossen, des Nußbauins, bewahrt, den die Axt des geldgierigen Aelplers
schonungslos abholzt, ohne in genügender und geregelter Weise für Nachwuchs
zu sorgen. So kommt es, daß die Edelkastanie nicht nur die unteren Thal-
gelände besetzt hält, sondern auch ihre Vorposten ziemlich weit an die Berge
hinausschiebt und hier manchem Sturme trotzt. Auf eine eigenthümliche Art
wird hier der Wein gezogen. Mit Hilfe des leicht spaltbaren Alpengneises stellt
man Säulengänge her, die man oben und an den Seiten mit Latten in engeren
Zwischenräumen verbindet. An diesen Gestellen rankt sich der Wein empor und
webt die weiten Holz- und Steinmaschen zu, so daß schattige Laubgänge von Reben
sich bilden, an denen im Herbste oben und an den Seiten herrliche Trauben herab¬
hängen. In den tieferen Thalgründen findet man auch schou die speciell süd¬
europäische Sitte, von demselben Felde eine dreifache Ernte zu erzielen, dadurch,


ungleiche Hälften, ungleich namentlich auch insofern die von links ihm melkende
Moesci, die ihm vom Bernardin eine beträchtliche Massermeuge zuführt, politisch
dem Canton Graubündten angehört. Die Verzasea dagegen und die Maggia,
letztere dem Tessin an Größe und reißenden Laufe fast ebenbürtig, ergießen sich
unmittelbar in den Langensee. Demnach wird die Ostgrenze durch die Wasser¬
scheide zwischen Moesa und Liro, einem Nebenfluß der Maira (Comersee), die
Westgrenze aber durch den Gebirgskamm zwischen der Maggia und dem Tone,
ebenfalls einem Vasallen des Lago maggiore, gebildet. Mit zwei spitzen Winkeln
dringt keilförmig Italien in das schweizerische Gebiet ein, wie denn auch die
ItaliMissimi ihr Verlangen nach der seit nahezu 400 Jahren mit der Schweiz
verbundenen Landschaft oft genug geäußert haben.

Wer vom Gotthard aus Airolo betritt, muß vorläufig das Livinenthal
(den obern Tessin) entweder durchwandern oder mit der Post durchfahren, denn
erst bis Biasea ist die südliche Zufahrtslinie des Gotthard vollendet. Biasea
ist eine alte Stadt mit kleinen schmutzigen Häusern, aber in Folge seiner neuen
Eigenschaft als Station in einem Verjüngungsproeeß begriffen; schon hat es
einige stattliche Hotels mit Omnibus ü. is, Aars und werbenden Herolden in
Livree. Unmittelbar über der Ortschaft erhebt sich die steile Cima ti Biasea,
geschmückt mit einem herrlichen Wasserfall, welcher aus einem kleinen See un¬
mittelbar unter dein Gipfel des Berges in fünf großen Sprüngen herabstürzt.
Die Vegetation ist hier schon ganz südlich; mächtige Kastanienbäume breiten ihre
Zweige aus und liefern eine reiche Fülle jener Früchte, die uns Nordländern
als Delicatesse gelten, während sie in diesem Thale den ärmeren Familien zur
gewöhnlichen Kost dienen und die Stelle der Kartoffel vertreten. Polenta und
Kastanien, Kastanien und Polenta — das ist der ganze Küchenhorizont dieser
Gebirgsbewohner. Nur der Umstand, daß das Holz des Kastanienbaumes zu
Feuerungs- und Gewerbszwecken fast untauglich ist, hat ihn vor dem Schicksal
seines Genossen, des Nußbauins, bewahrt, den die Axt des geldgierigen Aelplers
schonungslos abholzt, ohne in genügender und geregelter Weise für Nachwuchs
zu sorgen. So kommt es, daß die Edelkastanie nicht nur die unteren Thal-
gelände besetzt hält, sondern auch ihre Vorposten ziemlich weit an die Berge
hinausschiebt und hier manchem Sturme trotzt. Auf eine eigenthümliche Art
wird hier der Wein gezogen. Mit Hilfe des leicht spaltbaren Alpengneises stellt
man Säulengänge her, die man oben und an den Seiten mit Latten in engeren
Zwischenräumen verbindet. An diesen Gestellen rankt sich der Wein empor und
webt die weiten Holz- und Steinmaschen zu, so daß schattige Laubgänge von Reben
sich bilden, an denen im Herbste oben und an den Seiten herrliche Trauben herab¬
hängen. In den tieferen Thalgründen findet man auch schou die speciell süd¬
europäische Sitte, von demselben Felde eine dreifache Ernte zu erzielen, dadurch,


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[0526] ungleiche Hälften, ungleich namentlich auch insofern die von links ihm melkende Moesci, die ihm vom Bernardin eine beträchtliche Massermeuge zuführt, politisch dem Canton Graubündten angehört. Die Verzasea dagegen und die Maggia, letztere dem Tessin an Größe und reißenden Laufe fast ebenbürtig, ergießen sich unmittelbar in den Langensee. Demnach wird die Ostgrenze durch die Wasser¬ scheide zwischen Moesa und Liro, einem Nebenfluß der Maira (Comersee), die Westgrenze aber durch den Gebirgskamm zwischen der Maggia und dem Tone, ebenfalls einem Vasallen des Lago maggiore, gebildet. Mit zwei spitzen Winkeln dringt keilförmig Italien in das schweizerische Gebiet ein, wie denn auch die ItaliMissimi ihr Verlangen nach der seit nahezu 400 Jahren mit der Schweiz verbundenen Landschaft oft genug geäußert haben. Wer vom Gotthard aus Airolo betritt, muß vorläufig das Livinenthal (den obern Tessin) entweder durchwandern oder mit der Post durchfahren, denn erst bis Biasea ist die südliche Zufahrtslinie des Gotthard vollendet. Biasea ist eine alte Stadt mit kleinen schmutzigen Häusern, aber in Folge seiner neuen Eigenschaft als Station in einem Verjüngungsproeeß begriffen; schon hat es einige stattliche Hotels mit Omnibus ü. is, Aars und werbenden Herolden in Livree. Unmittelbar über der Ortschaft erhebt sich die steile Cima ti Biasea, geschmückt mit einem herrlichen Wasserfall, welcher aus einem kleinen See un¬ mittelbar unter dein Gipfel des Berges in fünf großen Sprüngen herabstürzt. Die Vegetation ist hier schon ganz südlich; mächtige Kastanienbäume breiten ihre Zweige aus und liefern eine reiche Fülle jener Früchte, die uns Nordländern als Delicatesse gelten, während sie in diesem Thale den ärmeren Familien zur gewöhnlichen Kost dienen und die Stelle der Kartoffel vertreten. Polenta und Kastanien, Kastanien und Polenta — das ist der ganze Küchenhorizont dieser Gebirgsbewohner. Nur der Umstand, daß das Holz des Kastanienbaumes zu Feuerungs- und Gewerbszwecken fast untauglich ist, hat ihn vor dem Schicksal seines Genossen, des Nußbauins, bewahrt, den die Axt des geldgierigen Aelplers schonungslos abholzt, ohne in genügender und geregelter Weise für Nachwuchs zu sorgen. So kommt es, daß die Edelkastanie nicht nur die unteren Thal- gelände besetzt hält, sondern auch ihre Vorposten ziemlich weit an die Berge hinausschiebt und hier manchem Sturme trotzt. Auf eine eigenthümliche Art wird hier der Wein gezogen. Mit Hilfe des leicht spaltbaren Alpengneises stellt man Säulengänge her, die man oben und an den Seiten mit Latten in engeren Zwischenräumen verbindet. An diesen Gestellen rankt sich der Wein empor und webt die weiten Holz- und Steinmaschen zu, so daß schattige Laubgänge von Reben sich bilden, an denen im Herbste oben und an den Seiten herrliche Trauben herab¬ hängen. In den tieferen Thalgründen findet man auch schou die speciell süd¬ europäische Sitte, von demselben Felde eine dreifache Ernte zu erzielen, dadurch,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/526>, abgerufen am 22.07.2024.