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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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daß mau die mit Getreide bestellten Felder auch noch mit Obstbäumen bepflanzt
und an diesen den Wein sich emporranken läßt. Als Beweis dafür, daß in
früheren Zeiten die Pflege der Rebe im Tessin eine noch ausgedehntere war
als jetzt, erzählt man sich, daß ehemals die Katzen auf dem Dache der Reblauben
von Biasca bis nach dem zwei Stunden entfernten Malvaglia spazieren konnten.
Der Weinbau litt aber bedeutenden Schaden durch umfangreiche Bergstürze;
die Trümmer eines solchen vom Jahre 1512 verstopften, viele Hütten unter sich
begrabend, die Mündung des Blegnobaches. Dadurch bildete sich ein großer
See, der 1514 durchbrach und Land und Dörfer von Biasea bis zum Langen-
see verwüstete. Große Gefahren bereiten auch die Wildwasser; aber erst neuer¬
dings hat man daran gedacht, ähnlich wie bei der Linth es schon vor Jahr¬
zehnten geschehen ist, dies Uebel an der Wurzel anzufassen. Uebrigens bethätigte
sich bei der Benennung dieser unnahbaren, ans steiler Bergschlucht hervorstür¬
zenden Unholde die gestaltende Phantasie der Alpenbewohner, indem sie dieselben
^lÄAMv oder äraFvQÄto (Drache) nannte.

Mitten unter den wüsten Trümmern verheerender Bergstürze bereitete sich
der Tessiuer ein liebliches Idyll durch Anlegung von Weingrotten (oantins,
8'wees), die entweder zur Aufbewahrung des Weines und zur Benutzung der
einzelnen Familie dienen oder wie die Bierkeller in Baiern auch fremde Gäste
bewirthen. Eine der berühmtesten der letzteren Art ist die Lantins al I^xrirw,
Lugano gegenüber, mit dem Ausblick auf den See und die Uferberge. Die
Fremden genießen hier meist den Vwo ä'L.8ti oder den ^.sti sxuroarcks und
spornen die Kehle durch Salami oder gekochten Schinken zu größerer Leistungs-
sa'higkeit an, während die Einheimischen in der Regel den kräftigeren Lardöra
aus Piemont vorziehen. Gegen Abend wandern die Familien, Groß und Klein,
mit einem Imbiß versehen hinaus in diese kühlen Grotten und verbringen hier
die Stunden in heiterer Geselligkeit und Gastlichkeit, indem die einen die anderen
besuchen; dabei entwickelt sich eine Art von Gemüthlichkeit, für deren Bezeich¬
nung allerdings dem Tessiner ebensowenig ein den Begriff denkendes Wort zu
Gebote steht wie dem Franzosen.

Der Weg von Biasea nach Bellinzona (Bellenz) bietet keine besonderen
landschaftlichen Schönheiten dar; dagegen liegt nahe der Stadt das Dorf Arbedo,
bei dem 3000 Schweizer aus Uri, Unterwalden, Luzern und Zug im Jahre
1422 zwar mit beträchtlichem Verlust, aber dennoch siegreich gegen 24000 mai¬
landische Söldner kämpften; die Gegner mußten ihnen das Schlachtfeld über¬
lassen. Ueber die Stadt Bellinzona und ihre Bewohner gilt auch heutzutage
noch, was Bonstetten, der im Jahre 1795 als Syndieator von Bern hier thätig
war, darüber sagt: "Prächtig glänzt in der Ferne dem von des Gotthcird Eis¬
land hinnntergestiegenen Wanderer die Stadt Bellinzona mit ihren drei hohen


daß mau die mit Getreide bestellten Felder auch noch mit Obstbäumen bepflanzt
und an diesen den Wein sich emporranken läßt. Als Beweis dafür, daß in
früheren Zeiten die Pflege der Rebe im Tessin eine noch ausgedehntere war
als jetzt, erzählt man sich, daß ehemals die Katzen auf dem Dache der Reblauben
von Biasca bis nach dem zwei Stunden entfernten Malvaglia spazieren konnten.
Der Weinbau litt aber bedeutenden Schaden durch umfangreiche Bergstürze;
die Trümmer eines solchen vom Jahre 1512 verstopften, viele Hütten unter sich
begrabend, die Mündung des Blegnobaches. Dadurch bildete sich ein großer
See, der 1514 durchbrach und Land und Dörfer von Biasea bis zum Langen-
see verwüstete. Große Gefahren bereiten auch die Wildwasser; aber erst neuer¬
dings hat man daran gedacht, ähnlich wie bei der Linth es schon vor Jahr¬
zehnten geschehen ist, dies Uebel an der Wurzel anzufassen. Uebrigens bethätigte
sich bei der Benennung dieser unnahbaren, ans steiler Bergschlucht hervorstür¬
zenden Unholde die gestaltende Phantasie der Alpenbewohner, indem sie dieselben
^lÄAMv oder äraFvQÄto (Drache) nannte.

Mitten unter den wüsten Trümmern verheerender Bergstürze bereitete sich
der Tessiuer ein liebliches Idyll durch Anlegung von Weingrotten (oantins,
8'wees), die entweder zur Aufbewahrung des Weines und zur Benutzung der
einzelnen Familie dienen oder wie die Bierkeller in Baiern auch fremde Gäste
bewirthen. Eine der berühmtesten der letzteren Art ist die Lantins al I^xrirw,
Lugano gegenüber, mit dem Ausblick auf den See und die Uferberge. Die
Fremden genießen hier meist den Vwo ä'L.8ti oder den ^.sti sxuroarcks und
spornen die Kehle durch Salami oder gekochten Schinken zu größerer Leistungs-
sa'higkeit an, während die Einheimischen in der Regel den kräftigeren Lardöra
aus Piemont vorziehen. Gegen Abend wandern die Familien, Groß und Klein,
mit einem Imbiß versehen hinaus in diese kühlen Grotten und verbringen hier
die Stunden in heiterer Geselligkeit und Gastlichkeit, indem die einen die anderen
besuchen; dabei entwickelt sich eine Art von Gemüthlichkeit, für deren Bezeich¬
nung allerdings dem Tessiner ebensowenig ein den Begriff denkendes Wort zu
Gebote steht wie dem Franzosen.

Der Weg von Biasea nach Bellinzona (Bellenz) bietet keine besonderen
landschaftlichen Schönheiten dar; dagegen liegt nahe der Stadt das Dorf Arbedo,
bei dem 3000 Schweizer aus Uri, Unterwalden, Luzern und Zug im Jahre
1422 zwar mit beträchtlichem Verlust, aber dennoch siegreich gegen 24000 mai¬
landische Söldner kämpften; die Gegner mußten ihnen das Schlachtfeld über¬
lassen. Ueber die Stadt Bellinzona und ihre Bewohner gilt auch heutzutage
noch, was Bonstetten, der im Jahre 1795 als Syndieator von Bern hier thätig
war, darüber sagt: „Prächtig glänzt in der Ferne dem von des Gotthcird Eis¬
land hinnntergestiegenen Wanderer die Stadt Bellinzona mit ihren drei hohen


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[0527] daß mau die mit Getreide bestellten Felder auch noch mit Obstbäumen bepflanzt und an diesen den Wein sich emporranken läßt. Als Beweis dafür, daß in früheren Zeiten die Pflege der Rebe im Tessin eine noch ausgedehntere war als jetzt, erzählt man sich, daß ehemals die Katzen auf dem Dache der Reblauben von Biasca bis nach dem zwei Stunden entfernten Malvaglia spazieren konnten. Der Weinbau litt aber bedeutenden Schaden durch umfangreiche Bergstürze; die Trümmer eines solchen vom Jahre 1512 verstopften, viele Hütten unter sich begrabend, die Mündung des Blegnobaches. Dadurch bildete sich ein großer See, der 1514 durchbrach und Land und Dörfer von Biasea bis zum Langen- see verwüstete. Große Gefahren bereiten auch die Wildwasser; aber erst neuer¬ dings hat man daran gedacht, ähnlich wie bei der Linth es schon vor Jahr¬ zehnten geschehen ist, dies Uebel an der Wurzel anzufassen. Uebrigens bethätigte sich bei der Benennung dieser unnahbaren, ans steiler Bergschlucht hervorstür¬ zenden Unholde die gestaltende Phantasie der Alpenbewohner, indem sie dieselben ^lÄAMv oder äraFvQÄto (Drache) nannte. Mitten unter den wüsten Trümmern verheerender Bergstürze bereitete sich der Tessiuer ein liebliches Idyll durch Anlegung von Weingrotten (oantins, 8'wees), die entweder zur Aufbewahrung des Weines und zur Benutzung der einzelnen Familie dienen oder wie die Bierkeller in Baiern auch fremde Gäste bewirthen. Eine der berühmtesten der letzteren Art ist die Lantins al I^xrirw, Lugano gegenüber, mit dem Ausblick auf den See und die Uferberge. Die Fremden genießen hier meist den Vwo ä'L.8ti oder den ^.sti sxuroarcks und spornen die Kehle durch Salami oder gekochten Schinken zu größerer Leistungs- sa'higkeit an, während die Einheimischen in der Regel den kräftigeren Lardöra aus Piemont vorziehen. Gegen Abend wandern die Familien, Groß und Klein, mit einem Imbiß versehen hinaus in diese kühlen Grotten und verbringen hier die Stunden in heiterer Geselligkeit und Gastlichkeit, indem die einen die anderen besuchen; dabei entwickelt sich eine Art von Gemüthlichkeit, für deren Bezeich¬ nung allerdings dem Tessiner ebensowenig ein den Begriff denkendes Wort zu Gebote steht wie dem Franzosen. Der Weg von Biasea nach Bellinzona (Bellenz) bietet keine besonderen landschaftlichen Schönheiten dar; dagegen liegt nahe der Stadt das Dorf Arbedo, bei dem 3000 Schweizer aus Uri, Unterwalden, Luzern und Zug im Jahre 1422 zwar mit beträchtlichem Verlust, aber dennoch siegreich gegen 24000 mai¬ landische Söldner kämpften; die Gegner mußten ihnen das Schlachtfeld über¬ lassen. Ueber die Stadt Bellinzona und ihre Bewohner gilt auch heutzutage noch, was Bonstetten, der im Jahre 1795 als Syndieator von Bern hier thätig war, darüber sagt: „Prächtig glänzt in der Ferne dem von des Gotthcird Eis¬ land hinnntergestiegenen Wanderer die Stadt Bellinzona mit ihren drei hohen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/527>, abgerufen am 23.07.2024.