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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Gegenwärtig allerdings scheint man in London von den eben dargelegten
Grundsätzen, die früher namentlich von Palmerston energisch vertreten wurden,
abgesehen zu wollen -- natürlich nicht aus irgend welchen Rücksichten auf
fremde Interessen und Rechte, sondern in Folge der Erkenntniß, daß ein Allein¬
besitz Herats gegen Rußland und Persien schwer zu vertheidigen wäre, und daß
man sich durch Willfährigkeit gegen Persien einen nützlichen Bundesgenossen
gegen Rußland verschaffen könnte. Nachdem Rußland, um sich der Neutralität
Persiens während des Kriegs mit den Turkmenen zu versichern, auf die von
jenem längst gewünschte Berichtigung der Grenzen eingegangen ist, will England
sich den Schah dadurch verpflichten, daß es ihm die Clausel des Vertrags von
1857 opfert, welche ihm die Besitznahme von Herat untersagt. Auf die An¬
fragen, die hierüber im Parlament ergingen, ergiebt sich, daß dieser Gedanke
wenigstens der Erwägung unterliegt, ja, daß bereits darauf bezügliche Unter¬
handlungen zwischen den Ministern der Königin Victoria und dem Schah statt¬
gefunden haben. Wie viel an den Mittheilungen ist, die von der "N. Fr. Presse",
angeblich aus guter Quelle, über die Sache gebracht worden sind, lassen wir
dahingestellt. Da sie jedoch nicht unglaubwürdig erscheinen, so wollen wir sie
anführen. Darnach handelte es sich bei der Angelegenheit um drei Punkte:
Besetzung der Stadt Herat durch persische und zugleich brittische Truppen,
dann angemessene Abgrenzung des Chanats, endlich Abschluß eines Offenst¬
und Defensivbündnisses zwischen den beiden Contrahenten. Der erste Punkt,
welcher englischen Oberbefehl in der Stadt Herat, ausschließliche Besetzung der
dortigen Citadelle durch brittische Soldaten, Verproviantirung derselben durch
Persien und eventuell den Hinmarsch von Buschir nach Herat einschlösse, wäre
von Persien im wesentlichen bereits angenommen. In Bezug auf den zweiten
Punkt wünschte Persien eine Erweiterung des Gebiets von Herat bis tief nach
Afghanistan hinein, so daß die Städte Kabernak, Melmandsch, Oel, Sami und
Säbswar zu Persien gehören würden, wogegen England, das zwischen Persien
und Indien ein großes neutrales Gebiet sehen möchte, den Vorschlag machte,
das zukünftige Gebiet Herats mehr von Osten nach Westen als von Norden
nach Süden auszudehnen und als Grenzpunkte desselben die Orte Margabhala,
Anschara, Ode, Eisabad und Dostabad festzusetzen. Hierüber schweben, wie es
heißt, die Unterhandlungen noch, da Persien auf feinem Verlangen beharren
und dafür anführen soll, es fordere nnr das, was es einst mit der Provinz Cho-
rassan besessen habe. Was endlich das englisch-persische Schutz- und Trutzbündniß
angeht, so sollen beide Mächte hierüber wiederum bereits zu einem Einver¬
ständnisse gelangt sein. Nach demselben würde Persien die Verpflichtung ein¬
gehen, falls Rußland nach einer Besetzung Merws von hier aus oder von einem
andern Punkte seiner mittelasiatischen Provinzen den Versuch machte, in das


Gegenwärtig allerdings scheint man in London von den eben dargelegten
Grundsätzen, die früher namentlich von Palmerston energisch vertreten wurden,
abgesehen zu wollen — natürlich nicht aus irgend welchen Rücksichten auf
fremde Interessen und Rechte, sondern in Folge der Erkenntniß, daß ein Allein¬
besitz Herats gegen Rußland und Persien schwer zu vertheidigen wäre, und daß
man sich durch Willfährigkeit gegen Persien einen nützlichen Bundesgenossen
gegen Rußland verschaffen könnte. Nachdem Rußland, um sich der Neutralität
Persiens während des Kriegs mit den Turkmenen zu versichern, auf die von
jenem längst gewünschte Berichtigung der Grenzen eingegangen ist, will England
sich den Schah dadurch verpflichten, daß es ihm die Clausel des Vertrags von
1857 opfert, welche ihm die Besitznahme von Herat untersagt. Auf die An¬
fragen, die hierüber im Parlament ergingen, ergiebt sich, daß dieser Gedanke
wenigstens der Erwägung unterliegt, ja, daß bereits darauf bezügliche Unter¬
handlungen zwischen den Ministern der Königin Victoria und dem Schah statt¬
gefunden haben. Wie viel an den Mittheilungen ist, die von der „N. Fr. Presse",
angeblich aus guter Quelle, über die Sache gebracht worden sind, lassen wir
dahingestellt. Da sie jedoch nicht unglaubwürdig erscheinen, so wollen wir sie
anführen. Darnach handelte es sich bei der Angelegenheit um drei Punkte:
Besetzung der Stadt Herat durch persische und zugleich brittische Truppen,
dann angemessene Abgrenzung des Chanats, endlich Abschluß eines Offenst¬
und Defensivbündnisses zwischen den beiden Contrahenten. Der erste Punkt,
welcher englischen Oberbefehl in der Stadt Herat, ausschließliche Besetzung der
dortigen Citadelle durch brittische Soldaten, Verproviantirung derselben durch
Persien und eventuell den Hinmarsch von Buschir nach Herat einschlösse, wäre
von Persien im wesentlichen bereits angenommen. In Bezug auf den zweiten
Punkt wünschte Persien eine Erweiterung des Gebiets von Herat bis tief nach
Afghanistan hinein, so daß die Städte Kabernak, Melmandsch, Oel, Sami und
Säbswar zu Persien gehören würden, wogegen England, das zwischen Persien
und Indien ein großes neutrales Gebiet sehen möchte, den Vorschlag machte,
das zukünftige Gebiet Herats mehr von Osten nach Westen als von Norden
nach Süden auszudehnen und als Grenzpunkte desselben die Orte Margabhala,
Anschara, Ode, Eisabad und Dostabad festzusetzen. Hierüber schweben, wie es
heißt, die Unterhandlungen noch, da Persien auf feinem Verlangen beharren
und dafür anführen soll, es fordere nnr das, was es einst mit der Provinz Cho-
rassan besessen habe. Was endlich das englisch-persische Schutz- und Trutzbündniß
angeht, so sollen beide Mächte hierüber wiederum bereits zu einem Einver¬
ständnisse gelangt sein. Nach demselben würde Persien die Verpflichtung ein¬
gehen, falls Rußland nach einer Besetzung Merws von hier aus oder von einem
andern Punkte seiner mittelasiatischen Provinzen den Versuch machte, in das


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[0456] Gegenwärtig allerdings scheint man in London von den eben dargelegten Grundsätzen, die früher namentlich von Palmerston energisch vertreten wurden, abgesehen zu wollen — natürlich nicht aus irgend welchen Rücksichten auf fremde Interessen und Rechte, sondern in Folge der Erkenntniß, daß ein Allein¬ besitz Herats gegen Rußland und Persien schwer zu vertheidigen wäre, und daß man sich durch Willfährigkeit gegen Persien einen nützlichen Bundesgenossen gegen Rußland verschaffen könnte. Nachdem Rußland, um sich der Neutralität Persiens während des Kriegs mit den Turkmenen zu versichern, auf die von jenem längst gewünschte Berichtigung der Grenzen eingegangen ist, will England sich den Schah dadurch verpflichten, daß es ihm die Clausel des Vertrags von 1857 opfert, welche ihm die Besitznahme von Herat untersagt. Auf die An¬ fragen, die hierüber im Parlament ergingen, ergiebt sich, daß dieser Gedanke wenigstens der Erwägung unterliegt, ja, daß bereits darauf bezügliche Unter¬ handlungen zwischen den Ministern der Königin Victoria und dem Schah statt¬ gefunden haben. Wie viel an den Mittheilungen ist, die von der „N. Fr. Presse", angeblich aus guter Quelle, über die Sache gebracht worden sind, lassen wir dahingestellt. Da sie jedoch nicht unglaubwürdig erscheinen, so wollen wir sie anführen. Darnach handelte es sich bei der Angelegenheit um drei Punkte: Besetzung der Stadt Herat durch persische und zugleich brittische Truppen, dann angemessene Abgrenzung des Chanats, endlich Abschluß eines Offenst¬ und Defensivbündnisses zwischen den beiden Contrahenten. Der erste Punkt, welcher englischen Oberbefehl in der Stadt Herat, ausschließliche Besetzung der dortigen Citadelle durch brittische Soldaten, Verproviantirung derselben durch Persien und eventuell den Hinmarsch von Buschir nach Herat einschlösse, wäre von Persien im wesentlichen bereits angenommen. In Bezug auf den zweiten Punkt wünschte Persien eine Erweiterung des Gebiets von Herat bis tief nach Afghanistan hinein, so daß die Städte Kabernak, Melmandsch, Oel, Sami und Säbswar zu Persien gehören würden, wogegen England, das zwischen Persien und Indien ein großes neutrales Gebiet sehen möchte, den Vorschlag machte, das zukünftige Gebiet Herats mehr von Osten nach Westen als von Norden nach Süden auszudehnen und als Grenzpunkte desselben die Orte Margabhala, Anschara, Ode, Eisabad und Dostabad festzusetzen. Hierüber schweben, wie es heißt, die Unterhandlungen noch, da Persien auf feinem Verlangen beharren und dafür anführen soll, es fordere nnr das, was es einst mit der Provinz Cho- rassan besessen habe. Was endlich das englisch-persische Schutz- und Trutzbündniß angeht, so sollen beide Mächte hierüber wiederum bereits zu einem Einver¬ ständnisse gelangt sein. Nach demselben würde Persien die Verpflichtung ein¬ gehen, falls Rußland nach einer Besetzung Merws von hier aus oder von einem andern Punkte seiner mittelasiatischen Provinzen den Versuch machte, in das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/456>, abgerufen am 03.07.2024.