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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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sodaß die Afghanen eine schwere Niederlage erlitten. Bald aber wendete sich
das Blatt, indem Dose Mohammed mit starker Heeresmacht nach dein südlichen
Herat aufbrach, von dort in unaufhaltsamem Zuge vor die Hauptstadt im nörd¬
lichen Theile rückte und dieselbe einnahm. Bald darauf starb er. Aber auch
unter schir Ali, dem neuen Emir von Afghanistan, verblieb Herat bei letzterem,
nur war es während des vierjährigen Bürgerkrieges, der bis 1868 wüthete und
bald schir Ali, bald dessen Bruder Azim Chan siegen und über die Afghanen
herrschen sah, und noch mehrere Jahre nachher fast unabhängig. Der Sohn
schir Alis, Jakub Khan, der jetzt Gefangener der Engländer ist, glaubte, für
die Dienste, die er seinem Vater bei Bekämpfung von dessen rebellischen Bruder
geleistet, nicht hinreichend belohnt zu sein, zog von Kabul nach Sei'star, jenem
südlichen Theile vou Herat, sammelte dort Anhänger und bemächtigte sich mit
deren Hilfe durch verrätherischen Ueberfall 1871 der Hauptstadt am Herirud,
wo er die seinem Vater treugebliebenen Beamten tödtete, die Häuptlinge der
benachbarten Stämme sich unterwürfig machte und bis zu Ende des Jahres 1874
fast unangefochten herrschte. Er bat dann in Kabul um Verzeihung; diese wurde
ihm jedoch nicht gewährt, sondern er wurde vor seinen Vater geladen, und da
er außer Stande war, sich dem zu entziehe", mußte er sich in Kabul als Ge¬
fangenen behandeln lassen, und erst nach dem Ableben schir Alis erlangte er
die Freiheit wieder. Herat aber war vom Januar 1875, wo es von schir
Alis Truppen widerstandslos besetzt wurde, bis auf die neueste Zeit unter der
unmittelbaren Herrschaft der Afghanen.

Alle diese Vorgänge würden für uns nur von müßigem Interesse sein,
wenn sie nicht zu dem großen Minenkriege gehörten, der zwischen England und
Rußland in Mittelasien geführt wird, mit anderen Worten: wenn hinter den
hier kämpfenden Parteien nicht immer bald die eine, bald die andere von diesen
beiden Großmächten stünde. Man weiß, wie dieselben an den Höfen von Kabul
und Teheran einander den Rang abzulaufen bestrebt find. Persien denkt seit
Jahrzehnten an die Wiedergewinnung Herats, und Rußland hat ihm, um seinen
Einfluß am Hofe des Schah zu.verstärken, seit ebenso langer Zeit Hoffnung
darauf gemacht und ihm seinen Beistand dazu versprochen. England hat sich
diesem Manöver der russischen Politik stets widersetzt, bald diplomatisch, bald,
wie wir sahen, mit Waffengewalt; denn am liebsten besäße es diesen Schlüssel
Indiens selbst, zumal wenn die Russen den wiederholt angekündigten Marsch
nach Merw antreten sollten, dessen Besitz an sich allerdings nur geringen Werth
hätte, aber einen neuen großen Schritt nach einem passenden Punkte hin be¬
deuten würde, von wo sich der Sprung nach Herat wagen ließe. Der nächste
Sprung würde darauf nach Kandahar führen, und von da wäre es verhältni߬
mäßig nicht allzuweit mehr bis an den Indus.


sodaß die Afghanen eine schwere Niederlage erlitten. Bald aber wendete sich
das Blatt, indem Dose Mohammed mit starker Heeresmacht nach dein südlichen
Herat aufbrach, von dort in unaufhaltsamem Zuge vor die Hauptstadt im nörd¬
lichen Theile rückte und dieselbe einnahm. Bald darauf starb er. Aber auch
unter schir Ali, dem neuen Emir von Afghanistan, verblieb Herat bei letzterem,
nur war es während des vierjährigen Bürgerkrieges, der bis 1868 wüthete und
bald schir Ali, bald dessen Bruder Azim Chan siegen und über die Afghanen
herrschen sah, und noch mehrere Jahre nachher fast unabhängig. Der Sohn
schir Alis, Jakub Khan, der jetzt Gefangener der Engländer ist, glaubte, für
die Dienste, die er seinem Vater bei Bekämpfung von dessen rebellischen Bruder
geleistet, nicht hinreichend belohnt zu sein, zog von Kabul nach Sei'star, jenem
südlichen Theile vou Herat, sammelte dort Anhänger und bemächtigte sich mit
deren Hilfe durch verrätherischen Ueberfall 1871 der Hauptstadt am Herirud,
wo er die seinem Vater treugebliebenen Beamten tödtete, die Häuptlinge der
benachbarten Stämme sich unterwürfig machte und bis zu Ende des Jahres 1874
fast unangefochten herrschte. Er bat dann in Kabul um Verzeihung; diese wurde
ihm jedoch nicht gewährt, sondern er wurde vor seinen Vater geladen, und da
er außer Stande war, sich dem zu entziehe», mußte er sich in Kabul als Ge¬
fangenen behandeln lassen, und erst nach dem Ableben schir Alis erlangte er
die Freiheit wieder. Herat aber war vom Januar 1875, wo es von schir
Alis Truppen widerstandslos besetzt wurde, bis auf die neueste Zeit unter der
unmittelbaren Herrschaft der Afghanen.

Alle diese Vorgänge würden für uns nur von müßigem Interesse sein,
wenn sie nicht zu dem großen Minenkriege gehörten, der zwischen England und
Rußland in Mittelasien geführt wird, mit anderen Worten: wenn hinter den
hier kämpfenden Parteien nicht immer bald die eine, bald die andere von diesen
beiden Großmächten stünde. Man weiß, wie dieselben an den Höfen von Kabul
und Teheran einander den Rang abzulaufen bestrebt find. Persien denkt seit
Jahrzehnten an die Wiedergewinnung Herats, und Rußland hat ihm, um seinen
Einfluß am Hofe des Schah zu.verstärken, seit ebenso langer Zeit Hoffnung
darauf gemacht und ihm seinen Beistand dazu versprochen. England hat sich
diesem Manöver der russischen Politik stets widersetzt, bald diplomatisch, bald,
wie wir sahen, mit Waffengewalt; denn am liebsten besäße es diesen Schlüssel
Indiens selbst, zumal wenn die Russen den wiederholt angekündigten Marsch
nach Merw antreten sollten, dessen Besitz an sich allerdings nur geringen Werth
hätte, aber einen neuen großen Schritt nach einem passenden Punkte hin be¬
deuten würde, von wo sich der Sprung nach Herat wagen ließe. Der nächste
Sprung würde darauf nach Kandahar führen, und von da wäre es verhältni߬
mäßig nicht allzuweit mehr bis an den Indus.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/455>, abgerufen am 03.07.2024.