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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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lauter ein jenes schriftliche erklärendes und weiter ausspinnendes mündliches
Gesetz, die Mischn" (deutsch: Wiederholung) entwickelte und von Geschlecht zu
Geschlecht fortpflanzte, welches, nachdem es zu Ende des zweiten Jahrhunderts
n. Chr. von Rabbi Jehuda Harahsi und dessen Schülern ebenfalls schriftlich
fixirt worden, seinerseits wieder zum Gegenstande gelehrter Ausdeutung und
Ergänzung gemacht und gleichermaßen zuletzt niedergeschrieben wurde. Dieser
zweite Haupttheil des Talmud wird mit dem Worte Gemara (deutsch: voll¬
ständige Erklärung) bezeichnet, und die Gelehrten, deren Leistungen in ihm ver¬
treten sind, werden Amoraim, die, welche durch ihre Aussprüche zur Mischna
beitrugen, Tanaim genannt. Die Gemara zerfällt in den jerusalemischen (rich¬
tiger palästinensischen) Talmud, der im vierten, und in den babylonischen, der
vom Rabbi Aschi im fünften Jahrhundert n. Chr. zusammengestellt wurde, aber
erst im sechsten zu vollem Abschlüsse gelaugte.

Der Talmud ist, wie wohl zu beachten, kein Religionsbuch, sondern
eine Sammlung juristischer, nach orientalischer Art auf Theologie gegründeter
und damit verquickter Betrachtungen. Er ist ferner in der Hauptsache ein Zeug¬
niß für den vorwiegend auf das Kleine gerichteten Geist, der fast alle jüdischen
Gelehrten auch heute noch bestimmt und bewegt, ein Product haarspaltender,
Mücken durchseihender Scholastik, nüchtern und trocken bis zum Exceß. Eine
grübelnde, deutelnde Wortklauberei spann hier in casuistischer Behandlung zu-
nächst der mosaischen Gesetze, dann der Ausdeutung des dabei gewonnenen neuen
Gesetzvorrathes eine ungeheure Fülle von Geboten und Verboten heraus, bei
denen der ursprüngliche Zweck meist verloren ging, und die aus dem Mosais-
mus eine reine Ceremonienreligion, einen Cultus des oxus oxsr^tum machten.
Diese Scholastik oder Casuistik, die Halacha, bildet aber nur den Haupt¬
bestandtheil des Talmud und bezieht sich lediglich aus die Thora oder den Pen-
tateuch. Neben ihr geht in denjenigen Stücken, welche als Haggad ah bezeichnet
werden, und welche auch andere alte canonische Bücher berücksichtigen, das Resultat
einer auf Erbauung und Unterhaltung gerichteten und oft recht phantastischen
Thätigkeit her, die ihren Sitz nicht in den Akademien der Gelehrten, sondern in
den Synagogen hatte und den schlichten Text der Bibel gewissermaßen homi¬
letisch erweiterte, ihn mit wunderlichen Geschichtchen und Märchen umrankte und
ihn mit einer bunten Menge von Sprüchen und Bildern aus den Gebieten
des Aberglaubens an gute und böse Geister, der Astrologie, der Medicin, der
Eschatologie und der Messiashoffnungen, sowie mit zahlreichen Parabeln be¬
gleitete. Selbst Münchhauseniaden und andere barocke Einfälle fehlen nicht.
Vieles ist geradezu läppisch. Andrerseits aber enthält die Haggadah hie und
da auch eine beachtenswerthe Perle der Moral.

Wir bemerken noch, daß die Mischna in sechs Ordnungen (Sedarim) einge-


lauter ein jenes schriftliche erklärendes und weiter ausspinnendes mündliches
Gesetz, die Mischn« (deutsch: Wiederholung) entwickelte und von Geschlecht zu
Geschlecht fortpflanzte, welches, nachdem es zu Ende des zweiten Jahrhunderts
n. Chr. von Rabbi Jehuda Harahsi und dessen Schülern ebenfalls schriftlich
fixirt worden, seinerseits wieder zum Gegenstande gelehrter Ausdeutung und
Ergänzung gemacht und gleichermaßen zuletzt niedergeschrieben wurde. Dieser
zweite Haupttheil des Talmud wird mit dem Worte Gemara (deutsch: voll¬
ständige Erklärung) bezeichnet, und die Gelehrten, deren Leistungen in ihm ver¬
treten sind, werden Amoraim, die, welche durch ihre Aussprüche zur Mischna
beitrugen, Tanaim genannt. Die Gemara zerfällt in den jerusalemischen (rich¬
tiger palästinensischen) Talmud, der im vierten, und in den babylonischen, der
vom Rabbi Aschi im fünften Jahrhundert n. Chr. zusammengestellt wurde, aber
erst im sechsten zu vollem Abschlüsse gelaugte.

Der Talmud ist, wie wohl zu beachten, kein Religionsbuch, sondern
eine Sammlung juristischer, nach orientalischer Art auf Theologie gegründeter
und damit verquickter Betrachtungen. Er ist ferner in der Hauptsache ein Zeug¬
niß für den vorwiegend auf das Kleine gerichteten Geist, der fast alle jüdischen
Gelehrten auch heute noch bestimmt und bewegt, ein Product haarspaltender,
Mücken durchseihender Scholastik, nüchtern und trocken bis zum Exceß. Eine
grübelnde, deutelnde Wortklauberei spann hier in casuistischer Behandlung zu-
nächst der mosaischen Gesetze, dann der Ausdeutung des dabei gewonnenen neuen
Gesetzvorrathes eine ungeheure Fülle von Geboten und Verboten heraus, bei
denen der ursprüngliche Zweck meist verloren ging, und die aus dem Mosais-
mus eine reine Ceremonienreligion, einen Cultus des oxus oxsr^tum machten.
Diese Scholastik oder Casuistik, die Halacha, bildet aber nur den Haupt¬
bestandtheil des Talmud und bezieht sich lediglich aus die Thora oder den Pen-
tateuch. Neben ihr geht in denjenigen Stücken, welche als Haggad ah bezeichnet
werden, und welche auch andere alte canonische Bücher berücksichtigen, das Resultat
einer auf Erbauung und Unterhaltung gerichteten und oft recht phantastischen
Thätigkeit her, die ihren Sitz nicht in den Akademien der Gelehrten, sondern in
den Synagogen hatte und den schlichten Text der Bibel gewissermaßen homi¬
letisch erweiterte, ihn mit wunderlichen Geschichtchen und Märchen umrankte und
ihn mit einer bunten Menge von Sprüchen und Bildern aus den Gebieten
des Aberglaubens an gute und böse Geister, der Astrologie, der Medicin, der
Eschatologie und der Messiashoffnungen, sowie mit zahlreichen Parabeln be¬
gleitete. Selbst Münchhauseniaden und andere barocke Einfälle fehlen nicht.
Vieles ist geradezu läppisch. Andrerseits aber enthält die Haggadah hie und
da auch eine beachtenswerthe Perle der Moral.

Wir bemerken noch, daß die Mischna in sechs Ordnungen (Sedarim) einge-


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[0364] lauter ein jenes schriftliche erklärendes und weiter ausspinnendes mündliches Gesetz, die Mischn« (deutsch: Wiederholung) entwickelte und von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzte, welches, nachdem es zu Ende des zweiten Jahrhunderts n. Chr. von Rabbi Jehuda Harahsi und dessen Schülern ebenfalls schriftlich fixirt worden, seinerseits wieder zum Gegenstande gelehrter Ausdeutung und Ergänzung gemacht und gleichermaßen zuletzt niedergeschrieben wurde. Dieser zweite Haupttheil des Talmud wird mit dem Worte Gemara (deutsch: voll¬ ständige Erklärung) bezeichnet, und die Gelehrten, deren Leistungen in ihm ver¬ treten sind, werden Amoraim, die, welche durch ihre Aussprüche zur Mischna beitrugen, Tanaim genannt. Die Gemara zerfällt in den jerusalemischen (rich¬ tiger palästinensischen) Talmud, der im vierten, und in den babylonischen, der vom Rabbi Aschi im fünften Jahrhundert n. Chr. zusammengestellt wurde, aber erst im sechsten zu vollem Abschlüsse gelaugte. Der Talmud ist, wie wohl zu beachten, kein Religionsbuch, sondern eine Sammlung juristischer, nach orientalischer Art auf Theologie gegründeter und damit verquickter Betrachtungen. Er ist ferner in der Hauptsache ein Zeug¬ niß für den vorwiegend auf das Kleine gerichteten Geist, der fast alle jüdischen Gelehrten auch heute noch bestimmt und bewegt, ein Product haarspaltender, Mücken durchseihender Scholastik, nüchtern und trocken bis zum Exceß. Eine grübelnde, deutelnde Wortklauberei spann hier in casuistischer Behandlung zu- nächst der mosaischen Gesetze, dann der Ausdeutung des dabei gewonnenen neuen Gesetzvorrathes eine ungeheure Fülle von Geboten und Verboten heraus, bei denen der ursprüngliche Zweck meist verloren ging, und die aus dem Mosais- mus eine reine Ceremonienreligion, einen Cultus des oxus oxsr^tum machten. Diese Scholastik oder Casuistik, die Halacha, bildet aber nur den Haupt¬ bestandtheil des Talmud und bezieht sich lediglich aus die Thora oder den Pen- tateuch. Neben ihr geht in denjenigen Stücken, welche als Haggad ah bezeichnet werden, und welche auch andere alte canonische Bücher berücksichtigen, das Resultat einer auf Erbauung und Unterhaltung gerichteten und oft recht phantastischen Thätigkeit her, die ihren Sitz nicht in den Akademien der Gelehrten, sondern in den Synagogen hatte und den schlichten Text der Bibel gewissermaßen homi¬ letisch erweiterte, ihn mit wunderlichen Geschichtchen und Märchen umrankte und ihn mit einer bunten Menge von Sprüchen und Bildern aus den Gebieten des Aberglaubens an gute und böse Geister, der Astrologie, der Medicin, der Eschatologie und der Messiashoffnungen, sowie mit zahlreichen Parabeln be¬ gleitete. Selbst Münchhauseniaden und andere barocke Einfälle fehlen nicht. Vieles ist geradezu läppisch. Andrerseits aber enthält die Haggadah hie und da auch eine beachtenswerthe Perle der Moral. Wir bemerken noch, daß die Mischna in sechs Ordnungen (Sedarim) einge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/364>, abgerufen am 23.07.2024.