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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Menschenalter immer noch brennende und vom Bater zum Sohne und Enkel
vererbte Erinnerung an die beiderseitigen Blutthaten. Jourdan Coupe-Me und
die stöhnenden Opfer seiner Glaciöre in Avignon unter dem Convent (1792),
die tsrrsur ti^neuf, ebenso blutig ausgeführt von den Royalisten nach der
Restauration nebst der Hiuschlachtung des Marschall Brune in Avignon (1815),
haben die Gemüther nie zur Ruhe kommen lassen; und wenn in den Julitagen,
im Februar 1848 und nach dein cinatrs LsxwrQdriz 1870 nicht Aehnliches in
gleichem Maße vorgekommen ist, so ist daran die Bevölkerung selbst am wenigsten
Schuld. Noch vor zwei Jahren zur Zeit des "16. Mai", wo sich der Verfasser
dieser Zeilen gleichfalls als unparteiischer Zuschauer im Lande befand, gingen
die Wogen der Agitation sehr hoch; damals hatten noch die Oonsörvatsurs, d. h.
die alliirten alten Parteien, die Legitimisten, Mramontanen, Bonapartisten, gegen
die Mehrheit der vereinigten Republikaner und Radikalen das Heft in Händen.
Damals aber galt für diese letzteren als mot ä'orärs: absolute Ruhe und legaler
Boden der Wahlen. Und diese Besonnenheit siegte -- wobei sich die Oonssr-
vstsurs, welche die Leitung der Wahlen hatten, manche fraudnlose Mani¬
pulationen, z. B. Wahlurnen mit doppeltem Boden und dergl., zu Schulden
kommen ließen.

Damit ist aber nicht gesagt, daß die Sache ein andermal wieder so glatt
verlaufen werde. Denn man kann nicht sagen, daß die obsiegende Partei in
Frankreich das rechte Maß zu halten weiß. Mit dem Emporkommen einer
Partei vollzieht sich -- im Gegensatze zu anderen Ländern -- ein völliger
Wechsel der Administrirenden bis zum letzten Feldwächter und Oetroi-Einnehmer
hinab; jede Partei hat ihre hungrigen Nachtreter, welche ein Aemtlein haben
wollen; die frühern müssen weichen, d. h. sie werden einfach auf die Straße
gesetzt, und Neulinge nehmen ihre Stellen ein. Das Pflanzt den Haß bis in die
Familien der niedrigsten Arbeiter hinein fort, und da heute alle Oonsörvatsrirs
aus den Aemtchen entfernt sind, so behüte uns Gott davor, daß die Republik
Schiffbruch leide durch ihre eigenen Anhänger; der Moment für eine Rache,
und zwar wie man täglich hören kann, für eine blutige Rache wäre ausge¬
brochen, eine neue Auflage der törrsur pig-mets stünde bevor.

Die Zeiten sind schlecht, der Erwerb liegt tief darnieder, die niedrigen
Klassen hungern -- und was noch weher thut, in einem holzarmen, nirgends
sür intensive und andauernde Kälte eingerichteten Lande -- sie frieren. Es ist
selbstverständlich, daß die gottesfürchtigen Journale der Rechten nicht anstehen,
all dies Ungemach der Republik und ihrer Gottlosigkeit in die Schuhe zu schieben.
Dennoch ist es ihnen bis jetzt nicht gelungen, die Besitzlosen gegen die Besitzenden
social aufzusetzen. Für diese Frage ist hier mit Ausnahme der großen Städte
kein Boden; denn das Land ist größtentheils ein Ackerbcmlnnd, und wenn es


Menschenalter immer noch brennende und vom Bater zum Sohne und Enkel
vererbte Erinnerung an die beiderseitigen Blutthaten. Jourdan Coupe-Me und
die stöhnenden Opfer seiner Glaciöre in Avignon unter dem Convent (1792),
die tsrrsur ti^neuf, ebenso blutig ausgeführt von den Royalisten nach der
Restauration nebst der Hiuschlachtung des Marschall Brune in Avignon (1815),
haben die Gemüther nie zur Ruhe kommen lassen; und wenn in den Julitagen,
im Februar 1848 und nach dein cinatrs LsxwrQdriz 1870 nicht Aehnliches in
gleichem Maße vorgekommen ist, so ist daran die Bevölkerung selbst am wenigsten
Schuld. Noch vor zwei Jahren zur Zeit des „16. Mai", wo sich der Verfasser
dieser Zeilen gleichfalls als unparteiischer Zuschauer im Lande befand, gingen
die Wogen der Agitation sehr hoch; damals hatten noch die Oonsörvatsurs, d. h.
die alliirten alten Parteien, die Legitimisten, Mramontanen, Bonapartisten, gegen
die Mehrheit der vereinigten Republikaner und Radikalen das Heft in Händen.
Damals aber galt für diese letzteren als mot ä'orärs: absolute Ruhe und legaler
Boden der Wahlen. Und diese Besonnenheit siegte — wobei sich die Oonssr-
vstsurs, welche die Leitung der Wahlen hatten, manche fraudnlose Mani¬
pulationen, z. B. Wahlurnen mit doppeltem Boden und dergl., zu Schulden
kommen ließen.

Damit ist aber nicht gesagt, daß die Sache ein andermal wieder so glatt
verlaufen werde. Denn man kann nicht sagen, daß die obsiegende Partei in
Frankreich das rechte Maß zu halten weiß. Mit dem Emporkommen einer
Partei vollzieht sich — im Gegensatze zu anderen Ländern — ein völliger
Wechsel der Administrirenden bis zum letzten Feldwächter und Oetroi-Einnehmer
hinab; jede Partei hat ihre hungrigen Nachtreter, welche ein Aemtlein haben
wollen; die frühern müssen weichen, d. h. sie werden einfach auf die Straße
gesetzt, und Neulinge nehmen ihre Stellen ein. Das Pflanzt den Haß bis in die
Familien der niedrigsten Arbeiter hinein fort, und da heute alle Oonsörvatsrirs
aus den Aemtchen entfernt sind, so behüte uns Gott davor, daß die Republik
Schiffbruch leide durch ihre eigenen Anhänger; der Moment für eine Rache,
und zwar wie man täglich hören kann, für eine blutige Rache wäre ausge¬
brochen, eine neue Auflage der törrsur pig-mets stünde bevor.

Die Zeiten sind schlecht, der Erwerb liegt tief darnieder, die niedrigen
Klassen hungern — und was noch weher thut, in einem holzarmen, nirgends
sür intensive und andauernde Kälte eingerichteten Lande — sie frieren. Es ist
selbstverständlich, daß die gottesfürchtigen Journale der Rechten nicht anstehen,
all dies Ungemach der Republik und ihrer Gottlosigkeit in die Schuhe zu schieben.
Dennoch ist es ihnen bis jetzt nicht gelungen, die Besitzlosen gegen die Besitzenden
social aufzusetzen. Für diese Frage ist hier mit Ausnahme der großen Städte
kein Boden; denn das Land ist größtentheils ein Ackerbcmlnnd, und wenn es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/354>, abgerufen am 22.07.2024.