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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Bedeutung der Religion anerkennt und dieselbe nur dem Verstände conformer
zu machen sucht: die der Stoiker in alter, die der Rationalisten in neuer Zeit.
Noch anders äußert sich die Vertrocknuug der eigenen Religiosität darin, daß
man sich ängstlich und sclavisch an die Religion der Väter mit all ihren Aeußer-
lichkeiten und Zufälligkeiten anklammert. Zu einer völlig werthlosen Scrupu-
lvsität, die mit großem Aberglauben eine vollständige Verwirrung der sittlich-
religiösen Begriffe verbinden kann, hat dieser Trieb namentlich im späteren
Römerthum geführt, zu einer wenigstens vielfach todten, heuchlerischen Recht¬
gläubigkeit im späteren Judenthum und Protestantismus.

Es kann aber auch eine neue Vertiefung der Religion aus der Unzufrie¬
denheit mit dem bloß Ueberlieferten hervorgehen: man wendet sich wieder von
den mechanischen Ceremonien und den abergläubischen oder geistentleerten Vor¬
stellungen zurück zu den inneren Quellen des religiösen Lebens, zu Gefühl und
Gewissen, an deren fruchtbaren Ufern immer neue Blüthen der Anschauung und
Verehrung statt der verwelkten oder gar künstlichen alten erwachsen. Jenen
Gang zu den lebendigen Quellen thaten Männer wie Sokrates unter den Hellenen,
der sich in frommer Ehrfurcht von seinem Dämon (im guten Sinne des Wortes)
leiten ließ, ohne daß er doch mit deu herkömmlichen Formen brach; ihn thaten
die hebräischen Propheten, die christlichen Mystiker des Mittelalters.

Aber eine wirkliche Erneuerung des religiösen Lebens setzt immer, wie Happel
sich ausdrückt, "geniale Inspiration des Völkerlebens" voraus, "wie sie in den
entscheidendsten Epochen der Weltgeschichte stattgefunden hat. Im Mittelpunkte
einer solchen allgemeinen religiösen Bewegung stehen alle Reformatoren des
religiösen Lebens."

Die Allgemeinheit dieser Bewegungen ist freilich, wie wir schon sahen, nur
eine begrenzte gewesen wegen der Verschiedenheit der Völker- und Rassemypen.
So entspricht der Buddhismus vor allem dem Wesen der mongolischen Nasse;
so hat sich der Islam hauptsächlich uur der vorderasiatischen und nordafrikanischen
Völker bemächtigen können. Darum tritt auch an uns die Frage heran, ob denn
wirklich das Christenthum die absolute Religion sei? Vom geschichtlichem Stand¬
punkte betrachtet, ist die Bejahung dieser Frage eine noch unerwiesene Behauptung.
Dennoch läßt sich doch das mit gutem Gewissen sagen: das Christenthum hat
schon jetzt eine Lebenskraft, ein Fähigkeit der Anpassung an den Tag gelegt wie
keine andere Religion. Es hat die Verpflanzung aus dem jüdischen Volksthum
in die griechisch-römische Welt und von da wieder in die germanische Art ertragen
und überdauert; es ist aus der kirchlichen Form des Katholicismus in die freiere,
einfach religiös - sittliche Darstellungsweise des Protestantismus übergegangen;
es scheint also doch in allerlei Stoffwechsel sein inneres Selbst bewahren, über
"allerlei Volk" sich ausbreiten zu können.


Bedeutung der Religion anerkennt und dieselbe nur dem Verstände conformer
zu machen sucht: die der Stoiker in alter, die der Rationalisten in neuer Zeit.
Noch anders äußert sich die Vertrocknuug der eigenen Religiosität darin, daß
man sich ängstlich und sclavisch an die Religion der Väter mit all ihren Aeußer-
lichkeiten und Zufälligkeiten anklammert. Zu einer völlig werthlosen Scrupu-
lvsität, die mit großem Aberglauben eine vollständige Verwirrung der sittlich-
religiösen Begriffe verbinden kann, hat dieser Trieb namentlich im späteren
Römerthum geführt, zu einer wenigstens vielfach todten, heuchlerischen Recht¬
gläubigkeit im späteren Judenthum und Protestantismus.

Es kann aber auch eine neue Vertiefung der Religion aus der Unzufrie¬
denheit mit dem bloß Ueberlieferten hervorgehen: man wendet sich wieder von
den mechanischen Ceremonien und den abergläubischen oder geistentleerten Vor¬
stellungen zurück zu den inneren Quellen des religiösen Lebens, zu Gefühl und
Gewissen, an deren fruchtbaren Ufern immer neue Blüthen der Anschauung und
Verehrung statt der verwelkten oder gar künstlichen alten erwachsen. Jenen
Gang zu den lebendigen Quellen thaten Männer wie Sokrates unter den Hellenen,
der sich in frommer Ehrfurcht von seinem Dämon (im guten Sinne des Wortes)
leiten ließ, ohne daß er doch mit deu herkömmlichen Formen brach; ihn thaten
die hebräischen Propheten, die christlichen Mystiker des Mittelalters.

Aber eine wirkliche Erneuerung des religiösen Lebens setzt immer, wie Happel
sich ausdrückt, „geniale Inspiration des Völkerlebens" voraus, „wie sie in den
entscheidendsten Epochen der Weltgeschichte stattgefunden hat. Im Mittelpunkte
einer solchen allgemeinen religiösen Bewegung stehen alle Reformatoren des
religiösen Lebens."

Die Allgemeinheit dieser Bewegungen ist freilich, wie wir schon sahen, nur
eine begrenzte gewesen wegen der Verschiedenheit der Völker- und Rassemypen.
So entspricht der Buddhismus vor allem dem Wesen der mongolischen Nasse;
so hat sich der Islam hauptsächlich uur der vorderasiatischen und nordafrikanischen
Völker bemächtigen können. Darum tritt auch an uns die Frage heran, ob denn
wirklich das Christenthum die absolute Religion sei? Vom geschichtlichem Stand¬
punkte betrachtet, ist die Bejahung dieser Frage eine noch unerwiesene Behauptung.
Dennoch läßt sich doch das mit gutem Gewissen sagen: das Christenthum hat
schon jetzt eine Lebenskraft, ein Fähigkeit der Anpassung an den Tag gelegt wie
keine andere Religion. Es hat die Verpflanzung aus dem jüdischen Volksthum
in die griechisch-römische Welt und von da wieder in die germanische Art ertragen
und überdauert; es ist aus der kirchlichen Form des Katholicismus in die freiere,
einfach religiös - sittliche Darstellungsweise des Protestantismus übergegangen;
es scheint also doch in allerlei Stoffwechsel sein inneres Selbst bewahren, über
„allerlei Volk" sich ausbreiten zu können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/283>, abgerufen am 23.07.2024.