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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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auf ungefähr 60 Seiten eine vollständige Religionsgeschichte zu bieten. Niemand
kann die Riesenhaftigkeit, ja Unlösbarkeit einer solchen Aufgabe entschiedener
hervorheben als Happel, wenn er sagt: "Von den meisten Völkern wissen wir
nur einzelne Ideen, Götternamen und allerlei abergläubische Vorstellungen und
Gebräuche. Es fehlt uns namentlich die Kenntniß der Religion des gemeinen
Mannes, des alltäglichen Lebens, abgesehen von ihrer Bearbeitung durch Prie¬
ster, Gelehrte, Künstler und Staatsmänner. Gerade bei der Beurtheilung des
religiösen Lebens kommt es aber nicht sowohl auf die Veräußerlichung derselben
in Mythologie, Cultus, Lehre u. s. w. an, als vielmehr auf ihre unmittelbare
gefühlsmäßige Wirksamkeit in der Tiefe des Gemüths, welche an und für sich
schon schwer zu constcitiren ist." Es sollen hier also nur gewisse Gesetze auf¬
gezeigt werden, nach denen unter gewissen Bedingungen gewisse Erscheinungen
im religiösen Leben eintreten. Natürlich kommt es dabei einerseits auf die
Volkscharaktere, andrerseits auf geographische, klimatische und historische Ver¬
hältnisse an. Naturvölker sind von den Einwirkungen der äußeren Natur weit
abhängiger als Culturvölker, in denen der innere Factor schon eine gewisse
Bestimmtheit und Festigkeit gewonnen hat. Eine solche Wirksamkeit des National-
charakters zeigt sich z. B. offenbar darin, daß der Protestantismus wesentlich
die germanischen Stämme ergriffen hat, während die römische Kirche hauptsäch¬
lich unter den romanischen, die griechische unter den slawischen Völkern ihre
Anhänger besitzt. Die Ausführung dieses Themas greift selbstverständlich viel¬
fach auf schon Besprochenes zurück. Wir wollen uns daher nur auf wenige
Grundzüge beschränken.

Im allgemeinen tritt die Religion wie auch die Sprache und das geistige
Leben überhaupt auf ihrem Entwicklungsgange aus dem Zeichen der Phantasie
zunächst in das des Verstandes. Der unerschöpfliche Quell naturwüchsiger
Göttergestalten versiegt allmählich, und es treten höchstens noch neue Begrisfs-
gottheiten hinzu, wie namentlich bei den Römern die subalternen Götter, welchen
die kleinsten Gebiete, die trivialsten Erscheinungsgruppen des menschlichen Lebens
in specielle Obhut und Pflege gegeben wurden. An die Stelle der alten volks¬
tümlichen Götter trat bald, so bezeugt Ms Plinius, die Fortuna, welche dann
noch nüchterner Z?or8 (das Schicksal) genannt wurde. "Endlich sprach man nur
noch von seinem Stern und von den Gesetzen des Werdens." Auf griechischem
Gebiet vertreten hauptsächlich die Sophisten und Epikureer diesen kühlen Stand¬
punkt, auf deutschen: die beiden zweiten Friedrich mit einem guten Theil ihrer
Zeitgenossen, der kaiserliche Staufer im dreizehnten, der große Prenßenkönig im
achtzehnten Jahrhundert. Aber neben dieser Richtung, die sich die Religion
überhaupt möglichst vom Leibe hält, läuft im achtzehnten und neunzehnten Jahr¬
hundert wie zu den Zeiten der epikureischen Schule eine andere her, welche die


auf ungefähr 60 Seiten eine vollständige Religionsgeschichte zu bieten. Niemand
kann die Riesenhaftigkeit, ja Unlösbarkeit einer solchen Aufgabe entschiedener
hervorheben als Happel, wenn er sagt: „Von den meisten Völkern wissen wir
nur einzelne Ideen, Götternamen und allerlei abergläubische Vorstellungen und
Gebräuche. Es fehlt uns namentlich die Kenntniß der Religion des gemeinen
Mannes, des alltäglichen Lebens, abgesehen von ihrer Bearbeitung durch Prie¬
ster, Gelehrte, Künstler und Staatsmänner. Gerade bei der Beurtheilung des
religiösen Lebens kommt es aber nicht sowohl auf die Veräußerlichung derselben
in Mythologie, Cultus, Lehre u. s. w. an, als vielmehr auf ihre unmittelbare
gefühlsmäßige Wirksamkeit in der Tiefe des Gemüths, welche an und für sich
schon schwer zu constcitiren ist." Es sollen hier also nur gewisse Gesetze auf¬
gezeigt werden, nach denen unter gewissen Bedingungen gewisse Erscheinungen
im religiösen Leben eintreten. Natürlich kommt es dabei einerseits auf die
Volkscharaktere, andrerseits auf geographische, klimatische und historische Ver¬
hältnisse an. Naturvölker sind von den Einwirkungen der äußeren Natur weit
abhängiger als Culturvölker, in denen der innere Factor schon eine gewisse
Bestimmtheit und Festigkeit gewonnen hat. Eine solche Wirksamkeit des National-
charakters zeigt sich z. B. offenbar darin, daß der Protestantismus wesentlich
die germanischen Stämme ergriffen hat, während die römische Kirche hauptsäch¬
lich unter den romanischen, die griechische unter den slawischen Völkern ihre
Anhänger besitzt. Die Ausführung dieses Themas greift selbstverständlich viel¬
fach auf schon Besprochenes zurück. Wir wollen uns daher nur auf wenige
Grundzüge beschränken.

Im allgemeinen tritt die Religion wie auch die Sprache und das geistige
Leben überhaupt auf ihrem Entwicklungsgange aus dem Zeichen der Phantasie
zunächst in das des Verstandes. Der unerschöpfliche Quell naturwüchsiger
Göttergestalten versiegt allmählich, und es treten höchstens noch neue Begrisfs-
gottheiten hinzu, wie namentlich bei den Römern die subalternen Götter, welchen
die kleinsten Gebiete, die trivialsten Erscheinungsgruppen des menschlichen Lebens
in specielle Obhut und Pflege gegeben wurden. An die Stelle der alten volks¬
tümlichen Götter trat bald, so bezeugt Ms Plinius, die Fortuna, welche dann
noch nüchterner Z?or8 (das Schicksal) genannt wurde. „Endlich sprach man nur
noch von seinem Stern und von den Gesetzen des Werdens." Auf griechischem
Gebiet vertreten hauptsächlich die Sophisten und Epikureer diesen kühlen Stand¬
punkt, auf deutschen: die beiden zweiten Friedrich mit einem guten Theil ihrer
Zeitgenossen, der kaiserliche Staufer im dreizehnten, der große Prenßenkönig im
achtzehnten Jahrhundert. Aber neben dieser Richtung, die sich die Religion
überhaupt möglichst vom Leibe hält, läuft im achtzehnten und neunzehnten Jahr¬
hundert wie zu den Zeiten der epikureischen Schule eine andere her, welche die


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[0282] auf ungefähr 60 Seiten eine vollständige Religionsgeschichte zu bieten. Niemand kann die Riesenhaftigkeit, ja Unlösbarkeit einer solchen Aufgabe entschiedener hervorheben als Happel, wenn er sagt: „Von den meisten Völkern wissen wir nur einzelne Ideen, Götternamen und allerlei abergläubische Vorstellungen und Gebräuche. Es fehlt uns namentlich die Kenntniß der Religion des gemeinen Mannes, des alltäglichen Lebens, abgesehen von ihrer Bearbeitung durch Prie¬ ster, Gelehrte, Künstler und Staatsmänner. Gerade bei der Beurtheilung des religiösen Lebens kommt es aber nicht sowohl auf die Veräußerlichung derselben in Mythologie, Cultus, Lehre u. s. w. an, als vielmehr auf ihre unmittelbare gefühlsmäßige Wirksamkeit in der Tiefe des Gemüths, welche an und für sich schon schwer zu constcitiren ist." Es sollen hier also nur gewisse Gesetze auf¬ gezeigt werden, nach denen unter gewissen Bedingungen gewisse Erscheinungen im religiösen Leben eintreten. Natürlich kommt es dabei einerseits auf die Volkscharaktere, andrerseits auf geographische, klimatische und historische Ver¬ hältnisse an. Naturvölker sind von den Einwirkungen der äußeren Natur weit abhängiger als Culturvölker, in denen der innere Factor schon eine gewisse Bestimmtheit und Festigkeit gewonnen hat. Eine solche Wirksamkeit des National- charakters zeigt sich z. B. offenbar darin, daß der Protestantismus wesentlich die germanischen Stämme ergriffen hat, während die römische Kirche hauptsäch¬ lich unter den romanischen, die griechische unter den slawischen Völkern ihre Anhänger besitzt. Die Ausführung dieses Themas greift selbstverständlich viel¬ fach auf schon Besprochenes zurück. Wir wollen uns daher nur auf wenige Grundzüge beschränken. Im allgemeinen tritt die Religion wie auch die Sprache und das geistige Leben überhaupt auf ihrem Entwicklungsgange aus dem Zeichen der Phantasie zunächst in das des Verstandes. Der unerschöpfliche Quell naturwüchsiger Göttergestalten versiegt allmählich, und es treten höchstens noch neue Begrisfs- gottheiten hinzu, wie namentlich bei den Römern die subalternen Götter, welchen die kleinsten Gebiete, die trivialsten Erscheinungsgruppen des menschlichen Lebens in specielle Obhut und Pflege gegeben wurden. An die Stelle der alten volks¬ tümlichen Götter trat bald, so bezeugt Ms Plinius, die Fortuna, welche dann noch nüchterner Z?or8 (das Schicksal) genannt wurde. „Endlich sprach man nur noch von seinem Stern und von den Gesetzen des Werdens." Auf griechischem Gebiet vertreten hauptsächlich die Sophisten und Epikureer diesen kühlen Stand¬ punkt, auf deutschen: die beiden zweiten Friedrich mit einem guten Theil ihrer Zeitgenossen, der kaiserliche Staufer im dreizehnten, der große Prenßenkönig im achtzehnten Jahrhundert. Aber neben dieser Richtung, die sich die Religion überhaupt möglichst vom Leibe hält, läuft im achtzehnten und neunzehnten Jahr¬ hundert wie zu den Zeiten der epikureischen Schule eine andere her, welche die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/282>, abgerufen am 23.07.2024.