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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Die Anfänge deutschen Lebens in Oesterreich.

Zu den Thatsachen, welche die geschichtliche Entwicklung unserer Nation
von jeher in hervorragender Weise bedingt haben, ist unstreitig jene merkwürdige
Verschiebung zu rechnen, die das deutsche Volksthum und die politische Begren¬
zung des deutschen Landes in der Richtung von West nach Ost allmählich, aber
stetig erlitten haben. Lagen einst die westlichen Grenzen des deutschen Reichs
und seiner burgundischen Nebeulcinder am Rhone und an der Saone, an der obern
Maas und Schelde, so bildete dieselben bis 1871 der Rhein von Basel abwärts
bis zur Mündung der Lauter, und erst der letzte Krieg hat sie wieder in ent¬
gegengesetzter Richtung, bis an die Vogesen und die Maas hinausgerückt. Wenn
dagegen andrerseits in den Jahrhunderten von der Völkerwanderung bis zur
Zeit Karls des Großen jenseits des Böhmerwaldes und der Elbe kein germa¬
nischer Laut vernommen wurde, so endigt gegenwärtig das deutsche Sprach¬
gebiet erst an Weichsel und Riemen. Dieses Vorrücken der ethnographischen
Grenze gegen Osten ist im nördlichen Deutschland weit gleichartiger, cousequenter
und durchschlagender vor sich gegangen als in den südlicheren Gegenden, trotz¬
dem daß hier die Donau dem deutschen Volke die Richtung sür seine Ausbrei¬
tung vorzuzeichnen schien. Aber offenbar haben auf die Bevölkerungszustände
und die geschichtlichen Schicksale dieser Gebiete, welche die Römer mit den Namen
Uoriov.ni und ?inmoiua bezeichneten, außer dem Strome noch andere, von denen
der norddeutschen Tiefebene wesentlich abweichende Naturverhältnisse, insbeson¬
dere ihre Lage und Bodenplastik, von frühester Zeit an einen bestimmenden
Einfluß geübt.

Freilich sind die Strahlen, welche in die älteste Vergangenheit dieser
Gegenden eindringen, nur spärlich und dürftig. Dennoch ist es einer äußerst
fleißigen und mühevollen Forschung, die zu den besten Leistungen der vor 1848
noch gar nicht vorhandenen, seitdem aber mit großer Rührigkeit vorwärtsstre¬
bender österreichischen Historiographie*) gehört, gelungen, einiges weitere Licht
über dieselbe zu verbreiten, und ein außervsterreichischer Gelehrter, Professor
O. Kämmel in Dresden, hat sich neuerdings die dankenswerthe Aufgabe gestellt
und, wie hier sogleich hinzugefügt sein möge, auch in dankenswerthester Weise
gelöst, diese Unzahl einzelner, an sich zusammenhangsloser Untersuchungen zu sichten,



*) Erst ganz neuerdings hat sich dieselbe wiederum ein neues Organ geschaffen in den
von Mühllbacher unter Mitwirkung von sinket, Thausing und v. Zeisberg begründeten
"Mittheilungen des Instituts für österreichische Gesichtsforschung".
Die Anfänge deutschen Lebens in Oesterreich.

Zu den Thatsachen, welche die geschichtliche Entwicklung unserer Nation
von jeher in hervorragender Weise bedingt haben, ist unstreitig jene merkwürdige
Verschiebung zu rechnen, die das deutsche Volksthum und die politische Begren¬
zung des deutschen Landes in der Richtung von West nach Ost allmählich, aber
stetig erlitten haben. Lagen einst die westlichen Grenzen des deutschen Reichs
und seiner burgundischen Nebeulcinder am Rhone und an der Saone, an der obern
Maas und Schelde, so bildete dieselben bis 1871 der Rhein von Basel abwärts
bis zur Mündung der Lauter, und erst der letzte Krieg hat sie wieder in ent¬
gegengesetzter Richtung, bis an die Vogesen und die Maas hinausgerückt. Wenn
dagegen andrerseits in den Jahrhunderten von der Völkerwanderung bis zur
Zeit Karls des Großen jenseits des Böhmerwaldes und der Elbe kein germa¬
nischer Laut vernommen wurde, so endigt gegenwärtig das deutsche Sprach¬
gebiet erst an Weichsel und Riemen. Dieses Vorrücken der ethnographischen
Grenze gegen Osten ist im nördlichen Deutschland weit gleichartiger, cousequenter
und durchschlagender vor sich gegangen als in den südlicheren Gegenden, trotz¬
dem daß hier die Donau dem deutschen Volke die Richtung sür seine Ausbrei¬
tung vorzuzeichnen schien. Aber offenbar haben auf die Bevölkerungszustände
und die geschichtlichen Schicksale dieser Gebiete, welche die Römer mit den Namen
Uoriov.ni und ?inmoiua bezeichneten, außer dem Strome noch andere, von denen
der norddeutschen Tiefebene wesentlich abweichende Naturverhältnisse, insbeson¬
dere ihre Lage und Bodenplastik, von frühester Zeit an einen bestimmenden
Einfluß geübt.

Freilich sind die Strahlen, welche in die älteste Vergangenheit dieser
Gegenden eindringen, nur spärlich und dürftig. Dennoch ist es einer äußerst
fleißigen und mühevollen Forschung, die zu den besten Leistungen der vor 1848
noch gar nicht vorhandenen, seitdem aber mit großer Rührigkeit vorwärtsstre¬
bender österreichischen Historiographie*) gehört, gelungen, einiges weitere Licht
über dieselbe zu verbreiten, und ein außervsterreichischer Gelehrter, Professor
O. Kämmel in Dresden, hat sich neuerdings die dankenswerthe Aufgabe gestellt
und, wie hier sogleich hinzugefügt sein möge, auch in dankenswerthester Weise
gelöst, diese Unzahl einzelner, an sich zusammenhangsloser Untersuchungen zu sichten,



*) Erst ganz neuerdings hat sich dieselbe wiederum ein neues Organ geschaffen in den
von Mühllbacher unter Mitwirkung von sinket, Thausing und v. Zeisberg begründeten
„Mittheilungen des Instituts für österreichische Gesichtsforschung".
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[0242] Die Anfänge deutschen Lebens in Oesterreich. Zu den Thatsachen, welche die geschichtliche Entwicklung unserer Nation von jeher in hervorragender Weise bedingt haben, ist unstreitig jene merkwürdige Verschiebung zu rechnen, die das deutsche Volksthum und die politische Begren¬ zung des deutschen Landes in der Richtung von West nach Ost allmählich, aber stetig erlitten haben. Lagen einst die westlichen Grenzen des deutschen Reichs und seiner burgundischen Nebeulcinder am Rhone und an der Saone, an der obern Maas und Schelde, so bildete dieselben bis 1871 der Rhein von Basel abwärts bis zur Mündung der Lauter, und erst der letzte Krieg hat sie wieder in ent¬ gegengesetzter Richtung, bis an die Vogesen und die Maas hinausgerückt. Wenn dagegen andrerseits in den Jahrhunderten von der Völkerwanderung bis zur Zeit Karls des Großen jenseits des Böhmerwaldes und der Elbe kein germa¬ nischer Laut vernommen wurde, so endigt gegenwärtig das deutsche Sprach¬ gebiet erst an Weichsel und Riemen. Dieses Vorrücken der ethnographischen Grenze gegen Osten ist im nördlichen Deutschland weit gleichartiger, cousequenter und durchschlagender vor sich gegangen als in den südlicheren Gegenden, trotz¬ dem daß hier die Donau dem deutschen Volke die Richtung sür seine Ausbrei¬ tung vorzuzeichnen schien. Aber offenbar haben auf die Bevölkerungszustände und die geschichtlichen Schicksale dieser Gebiete, welche die Römer mit den Namen Uoriov.ni und ?inmoiua bezeichneten, außer dem Strome noch andere, von denen der norddeutschen Tiefebene wesentlich abweichende Naturverhältnisse, insbeson¬ dere ihre Lage und Bodenplastik, von frühester Zeit an einen bestimmenden Einfluß geübt. Freilich sind die Strahlen, welche in die älteste Vergangenheit dieser Gegenden eindringen, nur spärlich und dürftig. Dennoch ist es einer äußerst fleißigen und mühevollen Forschung, die zu den besten Leistungen der vor 1848 noch gar nicht vorhandenen, seitdem aber mit großer Rührigkeit vorwärtsstre¬ bender österreichischen Historiographie*) gehört, gelungen, einiges weitere Licht über dieselbe zu verbreiten, und ein außervsterreichischer Gelehrter, Professor O. Kämmel in Dresden, hat sich neuerdings die dankenswerthe Aufgabe gestellt und, wie hier sogleich hinzugefügt sein möge, auch in dankenswerthester Weise gelöst, diese Unzahl einzelner, an sich zusammenhangsloser Untersuchungen zu sichten, *) Erst ganz neuerdings hat sich dieselbe wiederum ein neues Organ geschaffen in den von Mühllbacher unter Mitwirkung von sinket, Thausing und v. Zeisberg begründeten „Mittheilungen des Instituts für österreichische Gesichtsforschung".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/242>, abgerufen am 03.07.2024.