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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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sivstellung gewinnen wie unsere Westgrenze. Die Lage von Thorn entspricht
der Lage von Mainz. Beide Wasserplätze haben vorzugsweise defensive Be¬
deutung, beide sind aber zur Sicherheit des Reiches gegen einen äußern Feind
ganz unentbehrlich. Die Lage von Koko ist von hohem strategischen Werthe,
weil unterhalb jenes Ortes die Wartha durch einen Kalkriegel aufgestaut wird,
während sie oberhalb bis Sieradz sumpfige Ufer hat, welche einer Armee den
Uebergang sehr erschweren, ja unmöglich machen. Nach Norden hin beherrscht
Koko den Isthmus zwischen Weichsel und Wartha und sperrt ihn gegen einen
von Osten anrückenden Feind. Wir haben keine andere militärische Linie gegen
Nußland als den in Rede stehenden Landrücken mit den beiden Festungen Thorn
und Koko zum Rückhalt; man müßte denn sogleich über die Weichsel hinweg
bis an den Bug gehen, wie Knesebeck im Jahre 1813 forderte. Jene Linie ist
aber nur defensiv bedeutend und für eine Aggressiv-Operation ganz bedeutungs¬
los. Rußland würde durch Abtretung der Landschaften westlich dieser Linie
in seiner Sicherheit gegen das deutsche Reich nicht im Geringsten gefährdet.
Dagegen war die Linie Drewenz-Prosna keine militärische Linie, vielmehr sicherte
sich Kaiser Alexander dadurch die Möglichkeit, mit einem bei Peisern auf preu¬
ßisches Gebiet einrückenden Heere Schlesien und Preußen abzuschneiden und
deren Hilfsquellen für sich auszubeuten. Wenn diese unsere überaus ungün¬
stige (?) Lage uns bis jetzt nur geringe politische Nachtheile gebracht hat, so
lag es besonders an den von Nikolaus und Alexander II. warm gepflegten
verwandtschaftlichen Beziehungen zum preußischen Hofe. Eine militärische Ost¬
grenze haben wir auch heute uoch nicht, und es ist bis heute das von Alexan¬
der I. feierlich gegebene Wort, daß Preußen den Antheil am Herzoqthum War¬
schau erhalten solle, der nothwendig sei, um Altpreußen militärisch mit Schlesien
zu verbinden, uneiugelöst geblieben."

Soweit konnten wir dem Verfasser unsrer Abhandlung in der Hauptsache
ungefähr folgen. Wenn er aber schließlich meint: "Das deutsche Reich hat in
den letzten Jahren Rußland so viel gute Dienste geleistet, daß der Wunsch ge¬
rechtfertigt ist, Rußland möge in freundschaftlichem Wege, allenfalls unter voller
Entschädigung für seine materiellen Opfer, die Verabredungen des Kalischer
Vertrages jetzt in ihrem ganzen Umfange erfüllen", fo find wir abweichender
Ansicht. Jener Wunsch war 1815 und vielleicht noch ein paar Jahrzehnte
später begreiflich und in mancher Hinficht wohl auch gerechtfertigt, und er kann
dies in Zukunft wieder einmal sein. Für die Gegenwart spricht wenig für ihn
und vieles gegen ihn. Er erscheint unpolitisch, und er gründet sich auf keine
unbedingte Nothwendigkeit, seit Preußen zum deutschen Reiche geworden, und
seit seine Ostgrenze durch Befestigungen hinreichend geschützt ist, wozu jetzt und
hoffentlich für lange Zeit das Einverständniß mit Oesterreich-Ungarn kommt.


sivstellung gewinnen wie unsere Westgrenze. Die Lage von Thorn entspricht
der Lage von Mainz. Beide Wasserplätze haben vorzugsweise defensive Be¬
deutung, beide sind aber zur Sicherheit des Reiches gegen einen äußern Feind
ganz unentbehrlich. Die Lage von Koko ist von hohem strategischen Werthe,
weil unterhalb jenes Ortes die Wartha durch einen Kalkriegel aufgestaut wird,
während sie oberhalb bis Sieradz sumpfige Ufer hat, welche einer Armee den
Uebergang sehr erschweren, ja unmöglich machen. Nach Norden hin beherrscht
Koko den Isthmus zwischen Weichsel und Wartha und sperrt ihn gegen einen
von Osten anrückenden Feind. Wir haben keine andere militärische Linie gegen
Nußland als den in Rede stehenden Landrücken mit den beiden Festungen Thorn
und Koko zum Rückhalt; man müßte denn sogleich über die Weichsel hinweg
bis an den Bug gehen, wie Knesebeck im Jahre 1813 forderte. Jene Linie ist
aber nur defensiv bedeutend und für eine Aggressiv-Operation ganz bedeutungs¬
los. Rußland würde durch Abtretung der Landschaften westlich dieser Linie
in seiner Sicherheit gegen das deutsche Reich nicht im Geringsten gefährdet.
Dagegen war die Linie Drewenz-Prosna keine militärische Linie, vielmehr sicherte
sich Kaiser Alexander dadurch die Möglichkeit, mit einem bei Peisern auf preu¬
ßisches Gebiet einrückenden Heere Schlesien und Preußen abzuschneiden und
deren Hilfsquellen für sich auszubeuten. Wenn diese unsere überaus ungün¬
stige (?) Lage uns bis jetzt nur geringe politische Nachtheile gebracht hat, so
lag es besonders an den von Nikolaus und Alexander II. warm gepflegten
verwandtschaftlichen Beziehungen zum preußischen Hofe. Eine militärische Ost¬
grenze haben wir auch heute uoch nicht, und es ist bis heute das von Alexan¬
der I. feierlich gegebene Wort, daß Preußen den Antheil am Herzoqthum War¬
schau erhalten solle, der nothwendig sei, um Altpreußen militärisch mit Schlesien
zu verbinden, uneiugelöst geblieben."

Soweit konnten wir dem Verfasser unsrer Abhandlung in der Hauptsache
ungefähr folgen. Wenn er aber schließlich meint: „Das deutsche Reich hat in
den letzten Jahren Rußland so viel gute Dienste geleistet, daß der Wunsch ge¬
rechtfertigt ist, Rußland möge in freundschaftlichem Wege, allenfalls unter voller
Entschädigung für seine materiellen Opfer, die Verabredungen des Kalischer
Vertrages jetzt in ihrem ganzen Umfange erfüllen", fo find wir abweichender
Ansicht. Jener Wunsch war 1815 und vielleicht noch ein paar Jahrzehnte
später begreiflich und in mancher Hinficht wohl auch gerechtfertigt, und er kann
dies in Zukunft wieder einmal sein. Für die Gegenwart spricht wenig für ihn
und vieles gegen ihn. Er erscheint unpolitisch, und er gründet sich auf keine
unbedingte Nothwendigkeit, seit Preußen zum deutschen Reiche geworden, und
seit seine Ostgrenze durch Befestigungen hinreichend geschützt ist, wozu jetzt und
hoffentlich für lange Zeit das Einverständniß mit Oesterreich-Ungarn kommt.


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[0229] sivstellung gewinnen wie unsere Westgrenze. Die Lage von Thorn entspricht der Lage von Mainz. Beide Wasserplätze haben vorzugsweise defensive Be¬ deutung, beide sind aber zur Sicherheit des Reiches gegen einen äußern Feind ganz unentbehrlich. Die Lage von Koko ist von hohem strategischen Werthe, weil unterhalb jenes Ortes die Wartha durch einen Kalkriegel aufgestaut wird, während sie oberhalb bis Sieradz sumpfige Ufer hat, welche einer Armee den Uebergang sehr erschweren, ja unmöglich machen. Nach Norden hin beherrscht Koko den Isthmus zwischen Weichsel und Wartha und sperrt ihn gegen einen von Osten anrückenden Feind. Wir haben keine andere militärische Linie gegen Nußland als den in Rede stehenden Landrücken mit den beiden Festungen Thorn und Koko zum Rückhalt; man müßte denn sogleich über die Weichsel hinweg bis an den Bug gehen, wie Knesebeck im Jahre 1813 forderte. Jene Linie ist aber nur defensiv bedeutend und für eine Aggressiv-Operation ganz bedeutungs¬ los. Rußland würde durch Abtretung der Landschaften westlich dieser Linie in seiner Sicherheit gegen das deutsche Reich nicht im Geringsten gefährdet. Dagegen war die Linie Drewenz-Prosna keine militärische Linie, vielmehr sicherte sich Kaiser Alexander dadurch die Möglichkeit, mit einem bei Peisern auf preu¬ ßisches Gebiet einrückenden Heere Schlesien und Preußen abzuschneiden und deren Hilfsquellen für sich auszubeuten. Wenn diese unsere überaus ungün¬ stige (?) Lage uns bis jetzt nur geringe politische Nachtheile gebracht hat, so lag es besonders an den von Nikolaus und Alexander II. warm gepflegten verwandtschaftlichen Beziehungen zum preußischen Hofe. Eine militärische Ost¬ grenze haben wir auch heute uoch nicht, und es ist bis heute das von Alexan¬ der I. feierlich gegebene Wort, daß Preußen den Antheil am Herzoqthum War¬ schau erhalten solle, der nothwendig sei, um Altpreußen militärisch mit Schlesien zu verbinden, uneiugelöst geblieben." Soweit konnten wir dem Verfasser unsrer Abhandlung in der Hauptsache ungefähr folgen. Wenn er aber schließlich meint: „Das deutsche Reich hat in den letzten Jahren Rußland so viel gute Dienste geleistet, daß der Wunsch ge¬ rechtfertigt ist, Rußland möge in freundschaftlichem Wege, allenfalls unter voller Entschädigung für seine materiellen Opfer, die Verabredungen des Kalischer Vertrages jetzt in ihrem ganzen Umfange erfüllen", fo find wir abweichender Ansicht. Jener Wunsch war 1815 und vielleicht noch ein paar Jahrzehnte später begreiflich und in mancher Hinficht wohl auch gerechtfertigt, und er kann dies in Zukunft wieder einmal sein. Für die Gegenwart spricht wenig für ihn und vieles gegen ihn. Er erscheint unpolitisch, und er gründet sich auf keine unbedingte Nothwendigkeit, seit Preußen zum deutschen Reiche geworden, und seit seine Ostgrenze durch Befestigungen hinreichend geschützt ist, wozu jetzt und hoffentlich für lange Zeit das Einverständniß mit Oesterreich-Ungarn kommt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/229>, abgerufen am 01.07.2024.