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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Namen eines Componisten entweder zuließe oder ablehnte, anstatt die Werke auf¬
zuführen, die keine Ueberschriften haben, die mit Ueberschriften aber abzulehnen. Die
ganze Lächerlichkeit, man möchte sagen Kindlichkeit der Maxime tritt grell hervor,
wenn man durchmustert, inwieweit einer der neuesten Lieblinge des Gewandhauses,
Camille Saint-Saöns, zur Aufführung gelangt. Sein Clavierconcert, sein Cello-
evncert, sein Violinconcert Passiren unbeanstandet, vermuthlich überläßt man die
Verantwortlichkeit den vortragenden Herren Virtuosen; daß man aber seine A-Moll-
Symphonie zuläßt, während man seine poewk" s^mpboniquö-- unberücksichtigt läßt,
ist wiederum nur begreiflich, wenn man die Titelscheu des Gewandhauses kennt.
Denn daß Saint-Sasns mit seinen symphonischen Dichtungen glücklichere Würfe
gethan hat als mit der genannten Symphonie, wird ein Unbefangener kaum bestreik
ten. Was weiß man im Gewandhause von der v-use UncM-s, dem ?Niwton,
dem Kouot ä'Ompluüv, der ^ounesso ä'Uerouls? Nichts. Es liegt uns ferne, es
etwa für eine Pflicht des Gewandhauses erklären zu wollen, seinem Publikum eine
Uebersicht über die modernste symphonische Literatur zu verschaffen. So bedauerlich
es ist, daß in Leipzig, der Centrale des Musikhandels, kein Institut existirt, das
sich diese Aufgabe stellt -- die "Euterpe", die zweite Concertgesellschaft Leipzigs,
könnte sich damit mehr Dank und einen besseren Namen machen als mit den, leider
oft genug ungenügenden Vorführungen klassischer Werke --, so achten wir doch die
Tendenz hoch, in der Musik das conservative und klassische Element zu vertreten,
und wir würden das Gewandhaus nur beglückwünschen, wenn es dieses Ziel un¬
verrückt im Auge behielte. Leider müssen wir bekennen, daß uns das Vorhanden¬
sein dieser Tendenz immer fraglicher wird angesichts des sonderbaren Gemengsels
von zum Theil recht fragwürdigen Novitäten, welche sich in immer größerer Anzahl
auf den Programmen einfinden. Hier giebt es nur eine Alternative: entweder
man schließt die Componisten, welche der klassischen Richtung nicht huldigen, über¬
haupt aus, oder aber, wenn man sie zuläßt, so führe man sie mit den Werken
vor, in denen sich ihre Individualität ganz ausprägt. Nur dadurch wird man der
Bildung schiefer und falscher Urtheile vorbeugen. Vor allem aber muß doch ein
gewisser Plan, eine gewisse sachliche Kritik sich in der Auswahl der vorgeführten
Novitäten zu erkennen geben. Was dieses Coquettiren mit den Franzosen Saint-
Saöns, Lato, Godard, Gonoz bedeuten soll, ist uns unverständlich, da es durchaus
aus dem Rahmen der Gewandhaustraditionen herausfällt.

Gegen die in den ersten zehn Concerten dieses Winters vorgetragenen Ouver¬
türen ist nichts zu erinnern. Gespiele wurden: Schumanns "Genovcva", Beethovens
dritte Leonorenouvertüre, Webers "Euryanthc", Rheinbergers "Demetrius" (neu), Franz
von Holsteins als Skizze nachgelassene und von Albert Dietrich instrumentirte
"Frau Aventiure", Mendelssohns "Fingalshöhle", Cherubinis "Abenceragen", Beet¬
hovens "Coriolan", alles Werke, die auf Form halten und nicht extravagiren. Der
Titel "Ouvertüre" ist aber zugleich fürs Gewandhaus eine Paßkarte für Programm¬
musik, und unter diesem Deckmantel kommt manches Werk hinein, das vergeblich


Namen eines Componisten entweder zuließe oder ablehnte, anstatt die Werke auf¬
zuführen, die keine Ueberschriften haben, die mit Ueberschriften aber abzulehnen. Die
ganze Lächerlichkeit, man möchte sagen Kindlichkeit der Maxime tritt grell hervor,
wenn man durchmustert, inwieweit einer der neuesten Lieblinge des Gewandhauses,
Camille Saint-Saöns, zur Aufführung gelangt. Sein Clavierconcert, sein Cello-
evncert, sein Violinconcert Passiren unbeanstandet, vermuthlich überläßt man die
Verantwortlichkeit den vortragenden Herren Virtuosen; daß man aber seine A-Moll-
Symphonie zuläßt, während man seine poewk» s^mpboniquö-- unberücksichtigt läßt,
ist wiederum nur begreiflich, wenn man die Titelscheu des Gewandhauses kennt.
Denn daß Saint-Sasns mit seinen symphonischen Dichtungen glücklichere Würfe
gethan hat als mit der genannten Symphonie, wird ein Unbefangener kaum bestreik
ten. Was weiß man im Gewandhause von der v-use UncM-s, dem ?Niwton,
dem Kouot ä'Ompluüv, der ^ounesso ä'Uerouls? Nichts. Es liegt uns ferne, es
etwa für eine Pflicht des Gewandhauses erklären zu wollen, seinem Publikum eine
Uebersicht über die modernste symphonische Literatur zu verschaffen. So bedauerlich
es ist, daß in Leipzig, der Centrale des Musikhandels, kein Institut existirt, das
sich diese Aufgabe stellt — die „Euterpe", die zweite Concertgesellschaft Leipzigs,
könnte sich damit mehr Dank und einen besseren Namen machen als mit den, leider
oft genug ungenügenden Vorführungen klassischer Werke —, so achten wir doch die
Tendenz hoch, in der Musik das conservative und klassische Element zu vertreten,
und wir würden das Gewandhaus nur beglückwünschen, wenn es dieses Ziel un¬
verrückt im Auge behielte. Leider müssen wir bekennen, daß uns das Vorhanden¬
sein dieser Tendenz immer fraglicher wird angesichts des sonderbaren Gemengsels
von zum Theil recht fragwürdigen Novitäten, welche sich in immer größerer Anzahl
auf den Programmen einfinden. Hier giebt es nur eine Alternative: entweder
man schließt die Componisten, welche der klassischen Richtung nicht huldigen, über¬
haupt aus, oder aber, wenn man sie zuläßt, so führe man sie mit den Werken
vor, in denen sich ihre Individualität ganz ausprägt. Nur dadurch wird man der
Bildung schiefer und falscher Urtheile vorbeugen. Vor allem aber muß doch ein
gewisser Plan, eine gewisse sachliche Kritik sich in der Auswahl der vorgeführten
Novitäten zu erkennen geben. Was dieses Coquettiren mit den Franzosen Saint-
Saöns, Lato, Godard, Gonoz bedeuten soll, ist uns unverständlich, da es durchaus
aus dem Rahmen der Gewandhaustraditionen herausfällt.

Gegen die in den ersten zehn Concerten dieses Winters vorgetragenen Ouver¬
türen ist nichts zu erinnern. Gespiele wurden: Schumanns „Genovcva", Beethovens
dritte Leonorenouvertüre, Webers „Euryanthc", Rheinbergers „Demetrius" (neu), Franz
von Holsteins als Skizze nachgelassene und von Albert Dietrich instrumentirte
„Frau Aventiure", Mendelssohns „Fingalshöhle", Cherubinis „Abenceragen", Beet¬
hovens „Coriolan", alles Werke, die auf Form halten und nicht extravagiren. Der
Titel „Ouvertüre" ist aber zugleich fürs Gewandhaus eine Paßkarte für Programm¬
musik, und unter diesem Deckmantel kommt manches Werk hinein, das vergeblich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/219>, abgerufen am 03.07.2024.