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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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anklopfen würde, wenn es sich unvorsichtigerweise als "Symphonisches Tongemälde",
"Symphonische Dichtung" oder dergleichen vorstellen würde. Ouvertüren haben nun
einmal usuell Titel; sofern also nur einigermaßen eine gerundete Form kenntlich
ist, werden sie gespielt, sie mögen heißen, wie sie wollen. Daß dem ungeachtet
keine Wagnersche Ouvertüre gespielt wird, obgleich Richard Wagner geborner Leipziger
ist, versteht sich von selbst; denn das Gewandhaus ehrt viel zu sehr das Gedächtniß
Mendelssohns, als daß es sich dem Verfasser des "Judenthums in der Musik" auf¬
thun könnte. Nun, man hört ja oft genug im Theater Wagners Opern und in allen
Bier- und Kaffeeconcerten die Ouvertüren und Potpourris daraus von verschieden¬
artigster Qualität. Höchstens könnte man wünschen, daß die Faust-Ouvertüre einmal
zur Aufführung gebracht würde. Allein wie gesagt: wir wünschen gar keine Novi¬
täten, wir wünschen nur Consequenz!

Die mißlichen Chorverhältnisse erwähnten wir bereits. Ihnen ist es zuzu¬
schreiben, daß wir in den ersten zehn Concerten nur ein größeres Chorwerk zu
hören bekamen: Max Bruchs Composition der Schillerschen "Glocke". Das Werk
ist großartig angelegt und füllt den ganzen Abend aus. Näher auf die Compo¬
sition einzugehen, behalten wir uns für ein andermal vor. Die Glocke ist vielleicht
Bruchs schönstes Werk und eine willkommene Bereicherung unserer Chorgesang¬
literatur; wie sein erstes Violinconcert zum ständigen Repertoire der Geigenvirtuosen
neben Beethovens und Mendelssohns Concert und Spohrs "Gesangsscene" gehört,
so wird seine "Glocke" künftig neben Haydns "Schöpfung" und "Jahreszeiten",
Schumanns "Paradies und Perl" und "Der Rose Pilgerfahrt" gewiß ein Liebling
größerer Chorgesang-Vereine werden. Außer der "Glocke" hat das Gewandhaus
nur noch einmal Chorgesang gespendet und zwar eine Novität von Jadassohn,
"Verheißung", und einige Chöre aus Händels "Israel in Aegypten". Jadassohns
Werk macht keine großen Ansprüche, ist kurz, stimmungsvoll und nicht schwer; sein
Hauptwerth liegt in der gut sanglichen Behandlung der Chorstimmen.

Der alte Ruhm des Gewandhauses liegt in seinen Orchesterleistungen. Das
exacte Zusammenspiel unter David als erstem Concertmeister war mustergiltig, die
Rhythmen wurden mit äußerster Präcision zur Geltung gebracht, und Dinge, wie sie
jetzt manchmal vorkommen, z. B. im Trauermarsche der Eroica, daß die punktirten
Rhythmen nicht deutlich herauskommen, würden damals unerhört gewesen sein.
Man hat David oft darum gescholten, daß seine Drillung des Orchesters gar zu
militärisch gewesen sei, hat die Uniformität des Auf- und Niederstrichs aller Geiger
derselben Partie kritisirt jetzt beginnt aber bereits an negativen Resultaten sich
zu zeigen, wozu jene Dressur gut war. Wir gedenken nicht von einem wirklichen
Niedergange der Leistungen des Gewandhausorchesters zu reden; wir möchten nur
andeuten, daß eine kleine Anfrischung nicht schädlich wäre -- man vermißt eben
mehr und mehr den oft genug schulmeisternden, aber immer scharf zufassenden, ener¬
gischen, wahrhaft in der Musik lebenden David am ersten Violinpulte. Die
alten Traditionen sind zwar noch nicht erstorben, und in Leistungen wie der großen


anklopfen würde, wenn es sich unvorsichtigerweise als „Symphonisches Tongemälde",
„Symphonische Dichtung" oder dergleichen vorstellen würde. Ouvertüren haben nun
einmal usuell Titel; sofern also nur einigermaßen eine gerundete Form kenntlich
ist, werden sie gespielt, sie mögen heißen, wie sie wollen. Daß dem ungeachtet
keine Wagnersche Ouvertüre gespielt wird, obgleich Richard Wagner geborner Leipziger
ist, versteht sich von selbst; denn das Gewandhaus ehrt viel zu sehr das Gedächtniß
Mendelssohns, als daß es sich dem Verfasser des „Judenthums in der Musik" auf¬
thun könnte. Nun, man hört ja oft genug im Theater Wagners Opern und in allen
Bier- und Kaffeeconcerten die Ouvertüren und Potpourris daraus von verschieden¬
artigster Qualität. Höchstens könnte man wünschen, daß die Faust-Ouvertüre einmal
zur Aufführung gebracht würde. Allein wie gesagt: wir wünschen gar keine Novi¬
täten, wir wünschen nur Consequenz!

Die mißlichen Chorverhältnisse erwähnten wir bereits. Ihnen ist es zuzu¬
schreiben, daß wir in den ersten zehn Concerten nur ein größeres Chorwerk zu
hören bekamen: Max Bruchs Composition der Schillerschen „Glocke". Das Werk
ist großartig angelegt und füllt den ganzen Abend aus. Näher auf die Compo¬
sition einzugehen, behalten wir uns für ein andermal vor. Die Glocke ist vielleicht
Bruchs schönstes Werk und eine willkommene Bereicherung unserer Chorgesang¬
literatur; wie sein erstes Violinconcert zum ständigen Repertoire der Geigenvirtuosen
neben Beethovens und Mendelssohns Concert und Spohrs „Gesangsscene" gehört,
so wird seine „Glocke" künftig neben Haydns „Schöpfung" und „Jahreszeiten",
Schumanns „Paradies und Perl" und „Der Rose Pilgerfahrt" gewiß ein Liebling
größerer Chorgesang-Vereine werden. Außer der „Glocke" hat das Gewandhaus
nur noch einmal Chorgesang gespendet und zwar eine Novität von Jadassohn,
„Verheißung", und einige Chöre aus Händels „Israel in Aegypten". Jadassohns
Werk macht keine großen Ansprüche, ist kurz, stimmungsvoll und nicht schwer; sein
Hauptwerth liegt in der gut sanglichen Behandlung der Chorstimmen.

Der alte Ruhm des Gewandhauses liegt in seinen Orchesterleistungen. Das
exacte Zusammenspiel unter David als erstem Concertmeister war mustergiltig, die
Rhythmen wurden mit äußerster Präcision zur Geltung gebracht, und Dinge, wie sie
jetzt manchmal vorkommen, z. B. im Trauermarsche der Eroica, daß die punktirten
Rhythmen nicht deutlich herauskommen, würden damals unerhört gewesen sein.
Man hat David oft darum gescholten, daß seine Drillung des Orchesters gar zu
militärisch gewesen sei, hat die Uniformität des Auf- und Niederstrichs aller Geiger
derselben Partie kritisirt jetzt beginnt aber bereits an negativen Resultaten sich
zu zeigen, wozu jene Dressur gut war. Wir gedenken nicht von einem wirklichen
Niedergange der Leistungen des Gewandhausorchesters zu reden; wir möchten nur
andeuten, daß eine kleine Anfrischung nicht schädlich wäre — man vermißt eben
mehr und mehr den oft genug schulmeisternden, aber immer scharf zufassenden, ener¬
gischen, wahrhaft in der Musik lebenden David am ersten Violinpulte. Die
alten Traditionen sind zwar noch nicht erstorben, und in Leistungen wie der großen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/220>, abgerufen am 01.07.2024.