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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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dieses Ziel allein erstrebt; wiederholt sind auch Gesetze gegeben worden, welche
eine solche Verschmelzung herbeizuführen bestimmt waren; aber sie standen und
stehen eben auf dem Papier, Niemand beobachtet sie. Die Christen bilden in
den europäischen Provinzen der Türkei, so sehr sie numerisch den Osmanen
überlegen sind, noch immer die rechtlose, unterworfene Rajcch, gegen die sich
der Muselmann jede Gewaltsamkeit gestatten zu können glaubt. Hat es doch in
der Praxis bisher noch nicht einmal durchgeführt werden können, daß das
Zeugniß eines Christen bei gerichtlichen Acten von Muhcunedanern als voll¬
wichtig angesehen würde. Daher die Unsicherheit selbst in dem privaten und
commerciellen Verkehr der Christen mit den Türken, daher auch von Seiten
der unterdrückten und geknechteten Rajcch die immer wiederkehrenden Empörungen,
deren letzte, in großartigem Maßstabe unternommene die endliche Emancipation
von Serbien und Rumänien herbeigeführt hat.

Niemand kann leugnen, daß die gestimmte christliche Welt des Occidents
ein gemeinsames sittliches Interesse daran hat, daß den unaufhörlichen Gewalt¬
samkeiten der Osmanen gegen die Christen ein Ziel gesetzt werde. Und in der
That ist dies der Grund gewesen, der die europäischen Mächte zu einem fort¬
währenden Eingreifen in die inneren Zustände einer fremden Macht veranlaßt
hat. Auf welche Weise aber soll eine Aenderung des Zustandes herbeigeführt
werden, wenn die dahin zielenden Verordnungen des Großherrn selbst bei
dessen eigenen muselmännischen Unterthanen keinen Gehorsam finden? Das ist
der eigentliche Kern der orientalischen Frage. Für die Staaten, deren völlige
Unabhängigkeit durch den Berliner Frieden anerkannt worden ist, ist die Frage
nunmehr definitiv gelöst, und wir sehen diese jungen, kräftigen Nationalitäten,
nachdem der unerträgliche Druck von ihnen genommen ist, einer gedeihlichen
Entwicklung entgegengehen. Schon find in Serbien erfreuliche Keime zu einer
Cultur im europäischen Sinne gelegt werden. Aber die christliche Bevölkerung
bildet ja auch in den noch in directer oder indirecter Abhängigkeit von der
Pforte stehenden europäischen Provinzen der Türkei die Majorität. Dort aber
ist sie nach wie vor der Willkür türkischer Statthalter, türkischer Behörden und
türkischer Gerichte preisgegeben, obwohl die Verfassung vom 23. December 187L
ihnen formell wesentliche Erleichterungen zugesichert hat. Aber wie diese ganze
Verfassung überhaupt, so stehen auch jene die Lage der Christen erleichternden
Bestimmungen nur auf dem Papier; sie sind werthlos, so lauge türkische Richter
die Streitigkeiten zwischen Türken und Christen entscheiden.

Die eigentliche Schwierigkeit der hier zu lösenden Frage hat klarer fast
als alle Diplomaten ein großer Gelehrter schon vor zwei und einem halben
Jahrzehnt erkannt und meisterhaft dargestellt; im Gewühl des eben damals aus¬
gebrochenen Krimkrieges ist seine Stimme ungehört verhallt, obwohl seine An-


dieses Ziel allein erstrebt; wiederholt sind auch Gesetze gegeben worden, welche
eine solche Verschmelzung herbeizuführen bestimmt waren; aber sie standen und
stehen eben auf dem Papier, Niemand beobachtet sie. Die Christen bilden in
den europäischen Provinzen der Türkei, so sehr sie numerisch den Osmanen
überlegen sind, noch immer die rechtlose, unterworfene Rajcch, gegen die sich
der Muselmann jede Gewaltsamkeit gestatten zu können glaubt. Hat es doch in
der Praxis bisher noch nicht einmal durchgeführt werden können, daß das
Zeugniß eines Christen bei gerichtlichen Acten von Muhcunedanern als voll¬
wichtig angesehen würde. Daher die Unsicherheit selbst in dem privaten und
commerciellen Verkehr der Christen mit den Türken, daher auch von Seiten
der unterdrückten und geknechteten Rajcch die immer wiederkehrenden Empörungen,
deren letzte, in großartigem Maßstabe unternommene die endliche Emancipation
von Serbien und Rumänien herbeigeführt hat.

Niemand kann leugnen, daß die gestimmte christliche Welt des Occidents
ein gemeinsames sittliches Interesse daran hat, daß den unaufhörlichen Gewalt¬
samkeiten der Osmanen gegen die Christen ein Ziel gesetzt werde. Und in der
That ist dies der Grund gewesen, der die europäischen Mächte zu einem fort¬
währenden Eingreifen in die inneren Zustände einer fremden Macht veranlaßt
hat. Auf welche Weise aber soll eine Aenderung des Zustandes herbeigeführt
werden, wenn die dahin zielenden Verordnungen des Großherrn selbst bei
dessen eigenen muselmännischen Unterthanen keinen Gehorsam finden? Das ist
der eigentliche Kern der orientalischen Frage. Für die Staaten, deren völlige
Unabhängigkeit durch den Berliner Frieden anerkannt worden ist, ist die Frage
nunmehr definitiv gelöst, und wir sehen diese jungen, kräftigen Nationalitäten,
nachdem der unerträgliche Druck von ihnen genommen ist, einer gedeihlichen
Entwicklung entgegengehen. Schon find in Serbien erfreuliche Keime zu einer
Cultur im europäischen Sinne gelegt werden. Aber die christliche Bevölkerung
bildet ja auch in den noch in directer oder indirecter Abhängigkeit von der
Pforte stehenden europäischen Provinzen der Türkei die Majorität. Dort aber
ist sie nach wie vor der Willkür türkischer Statthalter, türkischer Behörden und
türkischer Gerichte preisgegeben, obwohl die Verfassung vom 23. December 187L
ihnen formell wesentliche Erleichterungen zugesichert hat. Aber wie diese ganze
Verfassung überhaupt, so stehen auch jene die Lage der Christen erleichternden
Bestimmungen nur auf dem Papier; sie sind werthlos, so lauge türkische Richter
die Streitigkeiten zwischen Türken und Christen entscheiden.

Die eigentliche Schwierigkeit der hier zu lösenden Frage hat klarer fast
als alle Diplomaten ein großer Gelehrter schon vor zwei und einem halben
Jahrzehnt erkannt und meisterhaft dargestellt; im Gewühl des eben damals aus¬
gebrochenen Krimkrieges ist seine Stimme ungehört verhallt, obwohl seine An-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/143>, abgerufen am 25.08.2024.