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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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schauungen die volle Billigung des Königs von Preußen und selbst des Kaisers
von Rußland fanden. In der That sind die von ihm aufgestellten Gesichtspunkte
noch heute die eigentlich entscheidenden.

Leopold von Ranke legte im Sommer 1854 dem Könige von Preußen ein
Gutachten über die orientalische Frage vor, welches dieser dem Kaiser Nicolaus
übersandte. Hier ist mit voller Schärfe und evidenter Klarheit der Gedanke
durchgeführt, daß die letzte Ursache des Mißlingens aller bisherigen Reform¬
versuche der Charakter der muhamedanischen Religion selbst sei, welche ihren
Bekennen: nicht nur gestatte, sondern zur heiligen Pflicht mache, die Ungläubigen
(Giaurs) zu unterdrücken. Geht doch die gesammte osmanische Gesetzgebung
ursprünglich von dem Gedanken ans, daß die unterworfenen Christen von Rechts
wegen ihr Leben verwirkt haben; die Kopfsteuer, welche sie zu zahlen haben,
wird geradezu als der Tribut aufgefaßt, durch welchen sie die Berechtigung,
weiter zu leben, erkaufen.^)

Drei Wege sind es im Ganzen nach Ranke, auf denen der gegenwärtige,
von allen Seiten als unerträglich erkannte Zustand verändert werden kann.
Davon ist, wenn die Aenderung als eine Besserung gelten soll, der eine, der zu
einer Wiederherstellung der unbedingten Herrschaft der Moslim sührt und natürlich
von diesen fanatisch gepriesen wird, von vornherein ausgeschlossen. Es bleiben
also nur noch die beiden Möglichkeiten einer vollkommenen Verschmelzung oder
einer vollkommenen Trennung der Nationen und Religionen. Auf dem ersteren,
namentlich von England anempfohlenen haben sich alle bisherigen Reform¬
versuche bewegt. Und in der That sind die Grundsätze, welche diesen Reformen
zu Grunde lagen, lobenswert!) und, theoretisch betrachtet, richtig; ein organisches
Staatswesen kann sich eben nur entwickeln, wenn der principielle Gegensatz der
Elemente, aus denen es besteht, gehoben wird. Aber nicht immer gehen Theorie
und Praxis Hand in Hand. Was ist, so fragt Ranke mit Recht, das Resultat
aller bisherige" Reformversuche gewesen? Was hat es der christlichen Bevölkerung
genutzt, daß der Hatischerif von Gnilhcme (3. November 1839) gleiche Sicherheit
aller Unterthanen der Pforte für Vermögen, Ehre und Leben garantirte? That¬
sächlich sind auch nach der Emanation jenes Hals die Christen als Rajah,
d. h. als rechtlose Herde, betrachtet und behandelt worden. Aus dieser Rajah
wirkliche Unterthanen des Sultans mit bürgerlichen und politischen Rechten zu
machen, das eben ist die scheinbar unlösbare Aufgabe.

In der That waren und find die Schwierigkeiten, welche sich einer Ver¬
schmelzung der verschiedenen Bevölkerungselemente der Türkei entgegenstellen,



*) Das Rankesche Gutachten ist zum ersten Male gedruckt in Shbels Historischer Zeit¬
schrift 1865 S> 406 ff,, jetzt wieder abgedruckt in dem oben erwähnten neuesten Werke Rankes.

schauungen die volle Billigung des Königs von Preußen und selbst des Kaisers
von Rußland fanden. In der That sind die von ihm aufgestellten Gesichtspunkte
noch heute die eigentlich entscheidenden.

Leopold von Ranke legte im Sommer 1854 dem Könige von Preußen ein
Gutachten über die orientalische Frage vor, welches dieser dem Kaiser Nicolaus
übersandte. Hier ist mit voller Schärfe und evidenter Klarheit der Gedanke
durchgeführt, daß die letzte Ursache des Mißlingens aller bisherigen Reform¬
versuche der Charakter der muhamedanischen Religion selbst sei, welche ihren
Bekennen: nicht nur gestatte, sondern zur heiligen Pflicht mache, die Ungläubigen
(Giaurs) zu unterdrücken. Geht doch die gesammte osmanische Gesetzgebung
ursprünglich von dem Gedanken ans, daß die unterworfenen Christen von Rechts
wegen ihr Leben verwirkt haben; die Kopfsteuer, welche sie zu zahlen haben,
wird geradezu als der Tribut aufgefaßt, durch welchen sie die Berechtigung,
weiter zu leben, erkaufen.^)

Drei Wege sind es im Ganzen nach Ranke, auf denen der gegenwärtige,
von allen Seiten als unerträglich erkannte Zustand verändert werden kann.
Davon ist, wenn die Aenderung als eine Besserung gelten soll, der eine, der zu
einer Wiederherstellung der unbedingten Herrschaft der Moslim sührt und natürlich
von diesen fanatisch gepriesen wird, von vornherein ausgeschlossen. Es bleiben
also nur noch die beiden Möglichkeiten einer vollkommenen Verschmelzung oder
einer vollkommenen Trennung der Nationen und Religionen. Auf dem ersteren,
namentlich von England anempfohlenen haben sich alle bisherigen Reform¬
versuche bewegt. Und in der That sind die Grundsätze, welche diesen Reformen
zu Grunde lagen, lobenswert!) und, theoretisch betrachtet, richtig; ein organisches
Staatswesen kann sich eben nur entwickeln, wenn der principielle Gegensatz der
Elemente, aus denen es besteht, gehoben wird. Aber nicht immer gehen Theorie
und Praxis Hand in Hand. Was ist, so fragt Ranke mit Recht, das Resultat
aller bisherige» Reformversuche gewesen? Was hat es der christlichen Bevölkerung
genutzt, daß der Hatischerif von Gnilhcme (3. November 1839) gleiche Sicherheit
aller Unterthanen der Pforte für Vermögen, Ehre und Leben garantirte? That¬
sächlich sind auch nach der Emanation jenes Hals die Christen als Rajah,
d. h. als rechtlose Herde, betrachtet und behandelt worden. Aus dieser Rajah
wirkliche Unterthanen des Sultans mit bürgerlichen und politischen Rechten zu
machen, das eben ist die scheinbar unlösbare Aufgabe.

In der That waren und find die Schwierigkeiten, welche sich einer Ver¬
schmelzung der verschiedenen Bevölkerungselemente der Türkei entgegenstellen,



*) Das Rankesche Gutachten ist zum ersten Male gedruckt in Shbels Historischer Zeit¬
schrift 1865 S> 406 ff,, jetzt wieder abgedruckt in dem oben erwähnten neuesten Werke Rankes.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/144>, abgerufen am 23.07.2024.