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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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gutgemeinten als meist vergeblichen Aenderuugsversuche im Einzelnen noch genan
in demselben Stadium, in welchem sie der unglückliche Sultan Selim III. seinem
Nachfolger und den übrigen europäischen Nationen als verhängnißvolles Ver-
müchtniß hinterließ. Fast in jedem Jahrzehnt sind seitdem um die Lösung dieser
Frage blutige Kriege entbrannt, zuweilen schien es, als wenn ein allgemeiner
Weltkrieg darüber ausbrechen sollte, wir selbst haben die letzte Phase dieser
trüben Entwicklung an uns vorüberziehen sehen, aber noch immer ist die Gefahr,
welche aus den innere" Zuständen der Türkei für den allgemeinen Weltfrieden
erwächst, keineswegs beseitigt; die letzten Wirren in Aegypten, welche zur
Absetzung des Chedive geführt haben, bezeugen es deutlich genug. Fortwährend
verfolgen die europäischen Großmächte mit der höchsten Spannung jedes neue
Stadium der historischen Entwicklung des Orients, zahlreiche Conferenzen sind
darüber gehalten, unendlich viel diplomatischer Scharfsinn auf die Verhand¬
lungen verwendet wurden; vergeblich -- das drohende Gespenst ist nicht zu
bannen.

Was ist es doch eigentlich, was eine definitive Lösung der orientalischen
Frage so schwierig, fast unmöglich erscheinen läßt? Was ist es, was die
europäischen Mächte immer von neuem veranlaßt, jede Bewegung des "kranken
Mannes" mit der äußersten Spannung zu verfolgen? Ist uicht diese fortwährende
Spannung selbst für die übrigen Völker Europas ein Unglück?

Ohne Zweifel haben wir es hier, so einfach die Lage der Dinge ans den
ersten Blick erscheint, mit einem der verwickeltsten historischen Phänomene zu
thun, welche die neuere Culturgeschichte aufweist. Im wesentlichen handelt es
sich doch bei allen diplomatischen Verhandlungen über diese Angelegenheit
zunächst um eine Garantie für die Sicherheit der den Osmanen unterworfenen
christlichen Bevölkerung. Die historischen Ursachen, aus denen diese gegenwärtige
Lage entsprungen ist, kehren fast in derselben Form sehr oft in der Weltgeschichte
wieder: eine neu zuwandernde, durch Abstammung und Religion entgegengesetzte
Bevölkerung unterwirft die bisherigen Einwohner des von ihr besetzten Landes
und verleiht sie ihrem Staatswesen ein. Die Ursachen sind dieselben, und doch
wie verschieden die Wirkungen! Während die germanischen Stämme, welche
das Römerreich vernichteten, so entgegengesetzt ihre ganze Cultur und Sinnes¬
weise der römischen war, doch gar bald mit den Unterworfenen zu einer einzigen
Nation verschmolzen und so den Grund zu den Nationen, die wir die romanischen
nennen, legten, ist es genau eben diese Verschmelzung der Unterwerfenden und
der Unterworfenen, welche sich bisher in der Türkei stets als unmöglich heraus¬
gestellt hat. Alle die zahlreichen Reformversuche, welche seit dem Ausgange des
vorigen Jahrhunderts sowohl von den Sultanen selbst als von der Pentarchie
der europäischen Großmächte gemacht worden sind, haben stets dieses Ziel und


gutgemeinten als meist vergeblichen Aenderuugsversuche im Einzelnen noch genan
in demselben Stadium, in welchem sie der unglückliche Sultan Selim III. seinem
Nachfolger und den übrigen europäischen Nationen als verhängnißvolles Ver-
müchtniß hinterließ. Fast in jedem Jahrzehnt sind seitdem um die Lösung dieser
Frage blutige Kriege entbrannt, zuweilen schien es, als wenn ein allgemeiner
Weltkrieg darüber ausbrechen sollte, wir selbst haben die letzte Phase dieser
trüben Entwicklung an uns vorüberziehen sehen, aber noch immer ist die Gefahr,
welche aus den innere» Zuständen der Türkei für den allgemeinen Weltfrieden
erwächst, keineswegs beseitigt; die letzten Wirren in Aegypten, welche zur
Absetzung des Chedive geführt haben, bezeugen es deutlich genug. Fortwährend
verfolgen die europäischen Großmächte mit der höchsten Spannung jedes neue
Stadium der historischen Entwicklung des Orients, zahlreiche Conferenzen sind
darüber gehalten, unendlich viel diplomatischer Scharfsinn auf die Verhand¬
lungen verwendet wurden; vergeblich — das drohende Gespenst ist nicht zu
bannen.

Was ist es doch eigentlich, was eine definitive Lösung der orientalischen
Frage so schwierig, fast unmöglich erscheinen läßt? Was ist es, was die
europäischen Mächte immer von neuem veranlaßt, jede Bewegung des „kranken
Mannes" mit der äußersten Spannung zu verfolgen? Ist uicht diese fortwährende
Spannung selbst für die übrigen Völker Europas ein Unglück?

Ohne Zweifel haben wir es hier, so einfach die Lage der Dinge ans den
ersten Blick erscheint, mit einem der verwickeltsten historischen Phänomene zu
thun, welche die neuere Culturgeschichte aufweist. Im wesentlichen handelt es
sich doch bei allen diplomatischen Verhandlungen über diese Angelegenheit
zunächst um eine Garantie für die Sicherheit der den Osmanen unterworfenen
christlichen Bevölkerung. Die historischen Ursachen, aus denen diese gegenwärtige
Lage entsprungen ist, kehren fast in derselben Form sehr oft in der Weltgeschichte
wieder: eine neu zuwandernde, durch Abstammung und Religion entgegengesetzte
Bevölkerung unterwirft die bisherigen Einwohner des von ihr besetzten Landes
und verleiht sie ihrem Staatswesen ein. Die Ursachen sind dieselben, und doch
wie verschieden die Wirkungen! Während die germanischen Stämme, welche
das Römerreich vernichteten, so entgegengesetzt ihre ganze Cultur und Sinnes¬
weise der römischen war, doch gar bald mit den Unterworfenen zu einer einzigen
Nation verschmolzen und so den Grund zu den Nationen, die wir die romanischen
nennen, legten, ist es genau eben diese Verschmelzung der Unterwerfenden und
der Unterworfenen, welche sich bisher in der Türkei stets als unmöglich heraus¬
gestellt hat. Alle die zahlreichen Reformversuche, welche seit dem Ausgange des
vorigen Jahrhunderts sowohl von den Sultanen selbst als von der Pentarchie
der europäischen Großmächte gemacht worden sind, haben stets dieses Ziel und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/142>, abgerufen am 22.07.2024.