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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Erreichung des Zweckes, der sicherm Erkennung, nothwendig war; darüber hinaus
schaltete sie auch jetzt und hier mit der historischen Treue so souverän, wie es
der Kunst zukommt, so lange sie Schöpferin bleibt und nicht Sclavin, nicht
Photographie wird. Wir dürfen daher sicher sein, daß die Merkmale, welche
uns der Künstler als Erkennungszeichen vorführt, historisch genau sind, d. h. so
wie sie wirklich bei den dargestellten Ereignissen vorkamen; wir dürfen aber
nicht umgekehrt schließen, daß, weil der Künstler nur diese Erkennungszeichen
gewählt, die wirklichen Menschen auch genau ebenso nur mit ihnen versehen
gewesen seien. Er vergaß über dem historischen Zweck den künstlerischen nicht,
und nachdem er jenem genug gethan hatte, machte er sein Recht auf diesen
geltend. Wenn er uns eine bestimmte Nationalität erkennen lassen will, so giebt
er ihr die charakteristischen, dem Griechen am meisten ausfallenden Merkmale,
also dem Perser die Hosen neben der phrygischen, überhaupt den Asiaten bezeich¬
nenden spitzen Mütze und den Schuhen. Ist diese aber so kenntlich gemacht,
so scheut sich der Künstler nicht, den Oberkörper des Persers nackt darzustellen,
sicher mit vollem Bewußtsein gegen die historische Wahrheit; er wollte als
Künstler eben nicht Gewänder, sondern den Körper selbst und die in jedem
Muskel pulsirende Seele darstellen. So wird hier derselbe, echt griechische
Compromiß geschlossen, der in den Heroendarstellungen zur Charakterisirung sich
mit einem Waffenstück begnügte, dann aber dem Künstler den freien Spielraum
ließ zu der edleren, wahrhaft künstlerischen Charakteristik dnrch die Bildung des
Körpers, des Trägers und Verkünders des Seelenlebens. Will man, wie es
geschehen ist, aus der Nacktheit des Oberkörpers des uns erhaltenen Persers
schließen, daß wegen dieser Nacktheit, die der historischen Tracht der Perser
nicht entspräche, trotz der für sie charakteristischen Hosen ein Gallier dargestellt
sei, so liegt darin eine Verkennung des auch diesen historischen Darstellungen
zu Grunde liegenden, sich ihnen aber nicht sclavisch unterordnenden künstlerischen
Gesichtspunktes, der auch in anderen Werken verwandter Richtung siegreich durch¬
bricht. Auch Laokoon ist, obgleich er sich am Altar befindet, nackt und nicht
im priesterlichen Gewände. Aber gerade der Altar genügt, ihn als Priester zu
charakterisiren, der realen Wahrheit ist Genüge gethan, und der Künstler darf
nun frei seiner künstlerischen Intention folgen.

Betrachten wir von diesem Gesichtspunkte aus die als zum Weihgeschenk
auf der Akropolis gehörig erkannten Neste, so ergiebt sich, daß fast alle vier
Gruppen vertreten sind. Außer der unverkennbaren Amazone (7)*) und dem
bereits genannten Perser (10), beide in Neapel, sind die Gallier verhältnißmäßig



*) Die Reste sind in Overbeck's "Geschichte der griechischen Plastik" auf einer Ucbersichts-

Erreichung des Zweckes, der sicherm Erkennung, nothwendig war; darüber hinaus
schaltete sie auch jetzt und hier mit der historischen Treue so souverän, wie es
der Kunst zukommt, so lange sie Schöpferin bleibt und nicht Sclavin, nicht
Photographie wird. Wir dürfen daher sicher sein, daß die Merkmale, welche
uns der Künstler als Erkennungszeichen vorführt, historisch genau sind, d. h. so
wie sie wirklich bei den dargestellten Ereignissen vorkamen; wir dürfen aber
nicht umgekehrt schließen, daß, weil der Künstler nur diese Erkennungszeichen
gewählt, die wirklichen Menschen auch genau ebenso nur mit ihnen versehen
gewesen seien. Er vergaß über dem historischen Zweck den künstlerischen nicht,
und nachdem er jenem genug gethan hatte, machte er sein Recht auf diesen
geltend. Wenn er uns eine bestimmte Nationalität erkennen lassen will, so giebt
er ihr die charakteristischen, dem Griechen am meisten ausfallenden Merkmale,
also dem Perser die Hosen neben der phrygischen, überhaupt den Asiaten bezeich¬
nenden spitzen Mütze und den Schuhen. Ist diese aber so kenntlich gemacht,
so scheut sich der Künstler nicht, den Oberkörper des Persers nackt darzustellen,
sicher mit vollem Bewußtsein gegen die historische Wahrheit; er wollte als
Künstler eben nicht Gewänder, sondern den Körper selbst und die in jedem
Muskel pulsirende Seele darstellen. So wird hier derselbe, echt griechische
Compromiß geschlossen, der in den Heroendarstellungen zur Charakterisirung sich
mit einem Waffenstück begnügte, dann aber dem Künstler den freien Spielraum
ließ zu der edleren, wahrhaft künstlerischen Charakteristik dnrch die Bildung des
Körpers, des Trägers und Verkünders des Seelenlebens. Will man, wie es
geschehen ist, aus der Nacktheit des Oberkörpers des uns erhaltenen Persers
schließen, daß wegen dieser Nacktheit, die der historischen Tracht der Perser
nicht entspräche, trotz der für sie charakteristischen Hosen ein Gallier dargestellt
sei, so liegt darin eine Verkennung des auch diesen historischen Darstellungen
zu Grunde liegenden, sich ihnen aber nicht sclavisch unterordnenden künstlerischen
Gesichtspunktes, der auch in anderen Werken verwandter Richtung siegreich durch¬
bricht. Auch Laokoon ist, obgleich er sich am Altar befindet, nackt und nicht
im priesterlichen Gewände. Aber gerade der Altar genügt, ihn als Priester zu
charakterisiren, der realen Wahrheit ist Genüge gethan, und der Künstler darf
nun frei seiner künstlerischen Intention folgen.

Betrachten wir von diesem Gesichtspunkte aus die als zum Weihgeschenk
auf der Akropolis gehörig erkannten Neste, so ergiebt sich, daß fast alle vier
Gruppen vertreten sind. Außer der unverkennbaren Amazone (7)*) und dem
bereits genannten Perser (10), beide in Neapel, sind die Gallier verhältnißmäßig



*) Die Reste sind in Overbeck's „Geschichte der griechischen Plastik" auf einer Ucbersichts-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/75>, abgerufen am 22.07.2024.