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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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zurücktreten und eben dadurch das ihnen gesetzte Maß nicht überschreiten. So
drückt die Plastik mit ihren beschränkteren Mitteln dieselbe Grnndstinummg aus,
die mit ihren reicheren Mitteln die Pindarische Poesie immer und immer wieder
hervorhebt und der sie eine Wendung verleiht, wie sie die Plastik unmittelbar
nicht ausdrücken konnte: die Warnung vor der Selbstüberhebung, die Mahnung,
in den Schranken zu bleiben, die den Sterblichen gesetzt sind.

Dieser fromme Sinn ist jetzt in der pergamenischen Kunst gründlich ver¬
schwunden. Die Hinweisung auf jene Götterthaten dient nicht zur Mäßigung
des Siegesbewußtseins, sondern zur Steigerung der Siegesfreude und des
Siegesstolzes; die Menschen stehen den Göttern um ebensoviel näher wie diese
von ihrer Hohe haben herabsteigen und sich vermenschlichen müssen, und die
Scheu vor Ueberhebung verschwindet in dem Maße, in welchem der Glaube an
die Götter mehr und mehr äußerlich und hinfällig wird. So konnte zur Er¬
reichung des gewünschten Eindrucks auch nicht mehr die maßvolle Ruhe in der
Darstellungsart genügen; es mußte vielmehr die höchste dramatische Lebendigkeit,
der energischste Ausdruck, die leidenschaftlichste Erregung als Ersatz für die
mangelnde Hoheit in der schaffenden Empfindung eintreten, und eben diese
Eigenschaften sind es, welche uns als die charakteristischsten des neuen Fundes
mitgetheilt werden. Auch in ihm spielt die Parallele mit dem Gigantenkampf
eine wichtige Rolle. Wir können hieraus entnehmen, wie sehr dem Könige
selbst, gewiß aber auch der Gesammtanschauung seiner Zeit die in dieser
prahlerischer Gegenüberstellung sich verkündende Auffassung menschlicher und
göttlicher Verhältnisse entsprach. Die hieraus sich ergebende Richtung auf er¬
greifenden, leidenschaftlichen, aufregenden Ausdruck spricht sich auch in den wenigen
Resten des Attalischen Weihgeschenkes noch deutlich genug aus, in welchen uns
ein seltsam erscheinendes und doch recht wohl begreifliches Geschick nur Besiegte
erhalten hat, die wegen der geringeren Erhebung vom Boden weniger leicht der
Zerstörung ausgesetzt waren und auch leichter verschleppt werden konnten.

In diesem selbstbewußten Gegenüberstellen mythischer und wirklicher Ereig¬
nisse liegt aber auch der Keim für das Bestreben, diese letzteren als das, was
sie sein sollten, möglichst scharf kenntlich zu machen, so daß ein Zweifel über
ihre Bedeutung nicht auskommen konnte. Die an und für sich schon vorhandene
realistische Tendenz der Kunst, das Streben nach Naturwahrheit, bildete sich zu
der erweiterten Tendenz auf historische Wahrheit fort und fügte so der perga¬
menischen Kunst ein neues Element hinzu. Dennoch war sie zu sehr von griechi¬
schem Geiste erfüllt, als daß diese historische Wahrheit zu einer sclavischen Nach¬
ahmung hätte werden können. Die auch hier noch herrschende ideale Auffassungs¬
weise benutzte die Darstellung der historischen Wahrheit, soweit sie ihr zur


zurücktreten und eben dadurch das ihnen gesetzte Maß nicht überschreiten. So
drückt die Plastik mit ihren beschränkteren Mitteln dieselbe Grnndstinummg aus,
die mit ihren reicheren Mitteln die Pindarische Poesie immer und immer wieder
hervorhebt und der sie eine Wendung verleiht, wie sie die Plastik unmittelbar
nicht ausdrücken konnte: die Warnung vor der Selbstüberhebung, die Mahnung,
in den Schranken zu bleiben, die den Sterblichen gesetzt sind.

Dieser fromme Sinn ist jetzt in der pergamenischen Kunst gründlich ver¬
schwunden. Die Hinweisung auf jene Götterthaten dient nicht zur Mäßigung
des Siegesbewußtseins, sondern zur Steigerung der Siegesfreude und des
Siegesstolzes; die Menschen stehen den Göttern um ebensoviel näher wie diese
von ihrer Hohe haben herabsteigen und sich vermenschlichen müssen, und die
Scheu vor Ueberhebung verschwindet in dem Maße, in welchem der Glaube an
die Götter mehr und mehr äußerlich und hinfällig wird. So konnte zur Er¬
reichung des gewünschten Eindrucks auch nicht mehr die maßvolle Ruhe in der
Darstellungsart genügen; es mußte vielmehr die höchste dramatische Lebendigkeit,
der energischste Ausdruck, die leidenschaftlichste Erregung als Ersatz für die
mangelnde Hoheit in der schaffenden Empfindung eintreten, und eben diese
Eigenschaften sind es, welche uns als die charakteristischsten des neuen Fundes
mitgetheilt werden. Auch in ihm spielt die Parallele mit dem Gigantenkampf
eine wichtige Rolle. Wir können hieraus entnehmen, wie sehr dem Könige
selbst, gewiß aber auch der Gesammtanschauung seiner Zeit die in dieser
prahlerischer Gegenüberstellung sich verkündende Auffassung menschlicher und
göttlicher Verhältnisse entsprach. Die hieraus sich ergebende Richtung auf er¬
greifenden, leidenschaftlichen, aufregenden Ausdruck spricht sich auch in den wenigen
Resten des Attalischen Weihgeschenkes noch deutlich genug aus, in welchen uns
ein seltsam erscheinendes und doch recht wohl begreifliches Geschick nur Besiegte
erhalten hat, die wegen der geringeren Erhebung vom Boden weniger leicht der
Zerstörung ausgesetzt waren und auch leichter verschleppt werden konnten.

In diesem selbstbewußten Gegenüberstellen mythischer und wirklicher Ereig¬
nisse liegt aber auch der Keim für das Bestreben, diese letzteren als das, was
sie sein sollten, möglichst scharf kenntlich zu machen, so daß ein Zweifel über
ihre Bedeutung nicht auskommen konnte. Die an und für sich schon vorhandene
realistische Tendenz der Kunst, das Streben nach Naturwahrheit, bildete sich zu
der erweiterten Tendenz auf historische Wahrheit fort und fügte so der perga¬
menischen Kunst ein neues Element hinzu. Dennoch war sie zu sehr von griechi¬
schem Geiste erfüllt, als daß diese historische Wahrheit zu einer sclavischen Nach¬
ahmung hätte werden können. Die auch hier noch herrschende ideale Auffassungs¬
weise benutzte die Darstellung der historischen Wahrheit, soweit sie ihr zur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/74>, abgerufen am 03.07.2024.