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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Zelle oder ein System solcher Zellen. Wer demnach das organische Leben
beseelt denken will, muß jede einzelne Zelle beseelt denken. Ganze Colonien,
Systeme, Staaten solcher Zellen können dann zu einem seelischen Centrum,
gleichsam zu einer monarchischen Spitze ihres Seelenlebens, in Wahrheit nur
dadurch gelangen, daß eine unter ihren unzähligen Zellseelen in ihrem Innern
die Auffassung, Zusammenfassung und Verwerthung der übrigen in ihrer Zu¬
sammengehörigkeit zu psychischem Ausdrucke bringt. Führt endlich jener Weg
des absteigenden Analogieverfahrens von der Pflanze zum Unorganischen, so
muthet auch hier Fechners Tendenz zur Allbeseelung uns weniger zu als manche
jüngere Naturphilosophie. Dem Krystall will er wohl ein eigenthümliches,
niederes, noch nicht an das pflanzliche heranreichendes Seelenleben zuschreiben.
"Auch die besondere Weise, wie ein Krystall das Licht bricht, wird in besondrer
Weise empfunden werden und, wie sich der Krystall gegen das Licht oder dieses
gegen ihn anders wendet und dreht, immer anders, und doch in einer, durch
sein inneres Gefüge und das Verhältniß seiner Axen in Zusammenhang bedingten
Weise empfunden werden" (S. 87). Andere sind längst weiter abwärts gegangen
bis zum "empfindenden Atom".

Allein Fechners "Ausbreitung der sinnlichen Erscheinung durch die Welt
über die Geschöpfe hinaus", d. h. seine Annahme eines mit sinnlichen Empfin¬
dungen erfüllten Innenlebens, seine Allbeseelung, beschränkt sich bei weitem
nicht auf diesen Gewinn eines absteigenden Verfahrens. "Ueber die Ge¬
schöpfe hinaus" würde ihn ein solches Verfahren nicht bringen. Gerade die
zuletzt betrachtete Welt des Unorganischen bietet ihm den Stützpunkt dar zum
Aufschwünge nach oben. Hier ist es, wo sein absteigender Weg in den auf¬
steigenden sich verkehrt. Das Unorganische existirt im Universum in der
Zusammenfassung zu Weltkörpern, welche zugleich die nächsten Erzeuger und
Träger des organischen Lebens und geistbegabter Geschöpfe sind. Sollte die
Einheit des Weltkörpers nicht einer zusammenfassenden Bewußtseins-Einheit ent¬
sprechen, umfassender, höher, reiner, göttlicher, als die Einheit des menschlichen
Bewußtseins? Wie der menschliche Leib dem menschlichen Geiste zugehört, so
fordert Fechner einen dem Menschen weit übergeordneten Gestirngeist, dem der
einzelne Sternkörper mit all seinen Geschöpfen zugehört. Alle die einzelnen
Gestirngeister mit ihren Welten find dann ebenso unter- und eingeordnet dem
Allgeiste Gottes. Dieser eigenthümlichste Zug der Fechnerschen Lehre besitzt vor
Allem die Liebe, die Begeisterung und die Zukunftshoffnungen des Autors. In
der Verkündigung dieses Glaubens schlägt er oft Saiten an, die uns an die
religiös-poetische Sprache und an die tief persönlich empfundene Stellung des
Propheten gegenüber einer ungläubigen Mitwelt gemahnen.

In den Religionen des Orients, in den Philosophien des Occidents, er-


Grmzboten II. 1880. 69

Zelle oder ein System solcher Zellen. Wer demnach das organische Leben
beseelt denken will, muß jede einzelne Zelle beseelt denken. Ganze Colonien,
Systeme, Staaten solcher Zellen können dann zu einem seelischen Centrum,
gleichsam zu einer monarchischen Spitze ihres Seelenlebens, in Wahrheit nur
dadurch gelangen, daß eine unter ihren unzähligen Zellseelen in ihrem Innern
die Auffassung, Zusammenfassung und Verwerthung der übrigen in ihrer Zu¬
sammengehörigkeit zu psychischem Ausdrucke bringt. Führt endlich jener Weg
des absteigenden Analogieverfahrens von der Pflanze zum Unorganischen, so
muthet auch hier Fechners Tendenz zur Allbeseelung uns weniger zu als manche
jüngere Naturphilosophie. Dem Krystall will er wohl ein eigenthümliches,
niederes, noch nicht an das pflanzliche heranreichendes Seelenleben zuschreiben.
„Auch die besondere Weise, wie ein Krystall das Licht bricht, wird in besondrer
Weise empfunden werden und, wie sich der Krystall gegen das Licht oder dieses
gegen ihn anders wendet und dreht, immer anders, und doch in einer, durch
sein inneres Gefüge und das Verhältniß seiner Axen in Zusammenhang bedingten
Weise empfunden werden" (S. 87). Andere sind längst weiter abwärts gegangen
bis zum „empfindenden Atom".

Allein Fechners „Ausbreitung der sinnlichen Erscheinung durch die Welt
über die Geschöpfe hinaus", d. h. seine Annahme eines mit sinnlichen Empfin¬
dungen erfüllten Innenlebens, seine Allbeseelung, beschränkt sich bei weitem
nicht auf diesen Gewinn eines absteigenden Verfahrens. „Ueber die Ge¬
schöpfe hinaus" würde ihn ein solches Verfahren nicht bringen. Gerade die
zuletzt betrachtete Welt des Unorganischen bietet ihm den Stützpunkt dar zum
Aufschwünge nach oben. Hier ist es, wo sein absteigender Weg in den auf¬
steigenden sich verkehrt. Das Unorganische existirt im Universum in der
Zusammenfassung zu Weltkörpern, welche zugleich die nächsten Erzeuger und
Träger des organischen Lebens und geistbegabter Geschöpfe sind. Sollte die
Einheit des Weltkörpers nicht einer zusammenfassenden Bewußtseins-Einheit ent¬
sprechen, umfassender, höher, reiner, göttlicher, als die Einheit des menschlichen
Bewußtseins? Wie der menschliche Leib dem menschlichen Geiste zugehört, so
fordert Fechner einen dem Menschen weit übergeordneten Gestirngeist, dem der
einzelne Sternkörper mit all seinen Geschöpfen zugehört. Alle die einzelnen
Gestirngeister mit ihren Welten find dann ebenso unter- und eingeordnet dem
Allgeiste Gottes. Dieser eigenthümlichste Zug der Fechnerschen Lehre besitzt vor
Allem die Liebe, die Begeisterung und die Zukunftshoffnungen des Autors. In
der Verkündigung dieses Glaubens schlägt er oft Saiten an, die uns an die
religiös-poetische Sprache und an die tief persönlich empfundene Stellung des
Propheten gegenüber einer ungläubigen Mitwelt gemahnen.

In den Religionen des Orients, in den Philosophien des Occidents, er-


Grmzboten II. 1880. 69
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[0541] Zelle oder ein System solcher Zellen. Wer demnach das organische Leben beseelt denken will, muß jede einzelne Zelle beseelt denken. Ganze Colonien, Systeme, Staaten solcher Zellen können dann zu einem seelischen Centrum, gleichsam zu einer monarchischen Spitze ihres Seelenlebens, in Wahrheit nur dadurch gelangen, daß eine unter ihren unzähligen Zellseelen in ihrem Innern die Auffassung, Zusammenfassung und Verwerthung der übrigen in ihrer Zu¬ sammengehörigkeit zu psychischem Ausdrucke bringt. Führt endlich jener Weg des absteigenden Analogieverfahrens von der Pflanze zum Unorganischen, so muthet auch hier Fechners Tendenz zur Allbeseelung uns weniger zu als manche jüngere Naturphilosophie. Dem Krystall will er wohl ein eigenthümliches, niederes, noch nicht an das pflanzliche heranreichendes Seelenleben zuschreiben. „Auch die besondere Weise, wie ein Krystall das Licht bricht, wird in besondrer Weise empfunden werden und, wie sich der Krystall gegen das Licht oder dieses gegen ihn anders wendet und dreht, immer anders, und doch in einer, durch sein inneres Gefüge und das Verhältniß seiner Axen in Zusammenhang bedingten Weise empfunden werden" (S. 87). Andere sind längst weiter abwärts gegangen bis zum „empfindenden Atom". Allein Fechners „Ausbreitung der sinnlichen Erscheinung durch die Welt über die Geschöpfe hinaus", d. h. seine Annahme eines mit sinnlichen Empfin¬ dungen erfüllten Innenlebens, seine Allbeseelung, beschränkt sich bei weitem nicht auf diesen Gewinn eines absteigenden Verfahrens. „Ueber die Ge¬ schöpfe hinaus" würde ihn ein solches Verfahren nicht bringen. Gerade die zuletzt betrachtete Welt des Unorganischen bietet ihm den Stützpunkt dar zum Aufschwünge nach oben. Hier ist es, wo sein absteigender Weg in den auf¬ steigenden sich verkehrt. Das Unorganische existirt im Universum in der Zusammenfassung zu Weltkörpern, welche zugleich die nächsten Erzeuger und Träger des organischen Lebens und geistbegabter Geschöpfe sind. Sollte die Einheit des Weltkörpers nicht einer zusammenfassenden Bewußtseins-Einheit ent¬ sprechen, umfassender, höher, reiner, göttlicher, als die Einheit des menschlichen Bewußtseins? Wie der menschliche Leib dem menschlichen Geiste zugehört, so fordert Fechner einen dem Menschen weit übergeordneten Gestirngeist, dem der einzelne Sternkörper mit all seinen Geschöpfen zugehört. Alle die einzelnen Gestirngeister mit ihren Welten find dann ebenso unter- und eingeordnet dem Allgeiste Gottes. Dieser eigenthümlichste Zug der Fechnerschen Lehre besitzt vor Allem die Liebe, die Begeisterung und die Zukunftshoffnungen des Autors. In der Verkündigung dieses Glaubens schlägt er oft Saiten an, die uns an die religiös-poetische Sprache und an die tief persönlich empfundene Stellung des Propheten gegenüber einer ungläubigen Mitwelt gemahnen. In den Religionen des Orients, in den Philosophien des Occidents, er- Grmzboten II. 1880. 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/541>, abgerufen am 22.07.2024.