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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Momente oder als Grund punkte der Tag es anficht, worauf alle Ent¬
wicklung derselben zu fußen hat, und wozwischen sie sich zu halten hat, betrachte
ich die Ausbreitung der sinnlichen Erscheinung durch die Welt
über die Geschöpfe hinaus, den Zusammenhang und Abschluß derselben,
in einer höchsten bewußten Einheit und den dazwischen vermittelnden
Gesichtspunkt, daß unser eigenes Bewußtsein dem ganzen, d.i. gött¬
lichen, Bewußtsein zugleich ein- und Unterthan ist" (S. 15).

Der erste dieser Grundpunkte, von dem die anderen eigentlich nur die
speciellere Ausführung enthalten, tritt der modernen Folgerung aus den oben
von uns erwähnten physiologisch-psychologischen Ergebnissen entgegen, daß, weil
die empfundene Lichtwelt unsere Innenwelt ist, die an sich seiende Welt außer
uns eine finstere, überhaupt sinnlich nicht qualificirbare sein müsse. In der That,
warum sollte nur unsere Innenwelt sinnliche Erscheinungen zeigen? Was
heißt hier überhaupt "unser" ? In aller Strenge verfahrend, dürfte nur jeder
Einzelne von seiner eigenen Innenwelt sprechen: sie allein ist Gegenstand
seiner Erfahrung; von anderen Wesen, anderen Personen hat er eben nur Ge-
sichtsbilder, Töne, Begriffe, in ihm selbst entstandene Gefühle und Trieberre¬
gungen, -- alles dies bezieht jeder Einzelne nur Schlußweise auf die Einwir¬
kung von Wesen außer ihm. Aber existiren denn diese anderen Wesen wirklich?
Werden ihre von mir gesehenen Bilder, und mit ihnen mein Glaube an
reale Wesen außer mir, nicht vielleicht durch ein späteres Erwachen meines
Ich aus diesem Weltentraume ebenso zergehen, wie meine allnächtlichen Traum¬
bilder durch mein allmorgendliches Erwachen? Ueberschreiten wir aber einmal
den breiten Graben, der unser Ich von dem Nicht-Ich trennt, so ist kein
Grund, bei den Mitmenschen stehen zu bleiben, nur diesen von allen Geschöpfen
außerhalb des eigenen Ich eine diesem ähnliche Innenwelt beizulegen, und
Jedermann geht bereits weiter, indem Jedermann auch in dem Thiere eine solche
Innenwelt annimmt, in welcher analoge Empfindungen, Bilder, psychische Re¬
gungen auf- und abtauchen wie in der Menschenseele. Und im allgemeinen
wird auch gar mancher geneigt sein, mit Fechner den Bereich der Thiere auf
diesem absteigenden Wege noch zu überschreiten, um ein gewisses, unbestimmtes
Analogon des sinnlichen Empfindungslebeus auch dem pflanzlichen Organismus
zuzuschreiben. Ja, seit Fechner zum ersten Male dieser Ansicht eine speciellere
Darstellung widmete, seit seiner "Nanna", ist das Kühnste, was er denken mochte,
weit überboten worden durch Häckels "Zellseele", die zugleich den Vorzug des
Anschlusses an die concrete naturwissenschaftliche Anschauung und an die wahre
Realität des organischen Lebens bietet. Denn Pflanze, Thier, Mensch sind ja
nicht einzelne lebendige Wesen, sondern ganze Colonien oder Staaten solcher
lebendiger Wesen: die wahrhafte Realität des organischen Lebens ist einzelne


Momente oder als Grund punkte der Tag es anficht, worauf alle Ent¬
wicklung derselben zu fußen hat, und wozwischen sie sich zu halten hat, betrachte
ich die Ausbreitung der sinnlichen Erscheinung durch die Welt
über die Geschöpfe hinaus, den Zusammenhang und Abschluß derselben,
in einer höchsten bewußten Einheit und den dazwischen vermittelnden
Gesichtspunkt, daß unser eigenes Bewußtsein dem ganzen, d.i. gött¬
lichen, Bewußtsein zugleich ein- und Unterthan ist" (S. 15).

Der erste dieser Grundpunkte, von dem die anderen eigentlich nur die
speciellere Ausführung enthalten, tritt der modernen Folgerung aus den oben
von uns erwähnten physiologisch-psychologischen Ergebnissen entgegen, daß, weil
die empfundene Lichtwelt unsere Innenwelt ist, die an sich seiende Welt außer
uns eine finstere, überhaupt sinnlich nicht qualificirbare sein müsse. In der That,
warum sollte nur unsere Innenwelt sinnliche Erscheinungen zeigen? Was
heißt hier überhaupt „unser" ? In aller Strenge verfahrend, dürfte nur jeder
Einzelne von seiner eigenen Innenwelt sprechen: sie allein ist Gegenstand
seiner Erfahrung; von anderen Wesen, anderen Personen hat er eben nur Ge-
sichtsbilder, Töne, Begriffe, in ihm selbst entstandene Gefühle und Trieberre¬
gungen, — alles dies bezieht jeder Einzelne nur Schlußweise auf die Einwir¬
kung von Wesen außer ihm. Aber existiren denn diese anderen Wesen wirklich?
Werden ihre von mir gesehenen Bilder, und mit ihnen mein Glaube an
reale Wesen außer mir, nicht vielleicht durch ein späteres Erwachen meines
Ich aus diesem Weltentraume ebenso zergehen, wie meine allnächtlichen Traum¬
bilder durch mein allmorgendliches Erwachen? Ueberschreiten wir aber einmal
den breiten Graben, der unser Ich von dem Nicht-Ich trennt, so ist kein
Grund, bei den Mitmenschen stehen zu bleiben, nur diesen von allen Geschöpfen
außerhalb des eigenen Ich eine diesem ähnliche Innenwelt beizulegen, und
Jedermann geht bereits weiter, indem Jedermann auch in dem Thiere eine solche
Innenwelt annimmt, in welcher analoge Empfindungen, Bilder, psychische Re¬
gungen auf- und abtauchen wie in der Menschenseele. Und im allgemeinen
wird auch gar mancher geneigt sein, mit Fechner den Bereich der Thiere auf
diesem absteigenden Wege noch zu überschreiten, um ein gewisses, unbestimmtes
Analogon des sinnlichen Empfindungslebeus auch dem pflanzlichen Organismus
zuzuschreiben. Ja, seit Fechner zum ersten Male dieser Ansicht eine speciellere
Darstellung widmete, seit seiner „Nanna", ist das Kühnste, was er denken mochte,
weit überboten worden durch Häckels „Zellseele", die zugleich den Vorzug des
Anschlusses an die concrete naturwissenschaftliche Anschauung und an die wahre
Realität des organischen Lebens bietet. Denn Pflanze, Thier, Mensch sind ja
nicht einzelne lebendige Wesen, sondern ganze Colonien oder Staaten solcher
lebendiger Wesen: die wahrhafte Realität des organischen Lebens ist einzelne


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/540>, abgerufen am 22.07.2024.