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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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der sich nun in seine sogenannte Privatreligion zurückflüchtete, seinen bisherigen
Bundesgenossen verlassend. In dieser Stimmung schrieb er seinen "satirischen
Anhang" zu der Beantwortung der Fragmente. Nichts in dem ganzen Streite
hat Lessing mehr erzürnt als diese Halbheit, und sein Zorn machte sich in den
derbsten Ausdrücken Luft. So schreibt er in dem schon erwähnten Briefe an
Elise Reimarus vom 14. Mai 1779 mit Bezug, auf Semler: "Eben als ich
noch den ganzen fünften Act vom Nathan zu machen hatte, erhielt ich dasselbe,
und war über die impertinente Professorgans so erbittert, daß ich alle gute
Laune, die mir zum Verse machen so nöthig ist, darüber verlor und schon Ge¬
fahr lief, den ganzen Nathan darüber zu vergessen. Danken Sie auch nur Gott,
daß ich während dieser Zeit Ihnen nicht schrieb! Ich würde Ihnen geschrieben
haben, daß man nun schlechterdings nicht mehr hinter dem Berge halten müsse.
Wäre es auch nur, um so einen Esel zu beschämen, wenn sich ein Esel beschämen
läßt -- Aber ich will es ihm schon indeß auf eine andere Weise
eintränken und ihm ein Briefchen ans Bedlam schreiben, daß er an mich
denken soll! Nur ein klein wenig Geduld! Mittlerweile wird ihm mein
Nathan auch schon ein wenig einbeizen." Darauf schrieb Elise Rei-
marus am 18. Mai 1779: "Auf Ihr Briefchen aus Bedlam sind wir äußerst
begierig. Wol ein fein Datum. Aber wissen Sie wol, daß Götze itzt beschäf¬
tigt ist, alle heterodoxen Steine aus Semlers Schriften aufzulesen und daraus
eine" Scheiterhaufen zu bauen, worauf er Seinler selbst verbrennen läßt?"

Dieses "Briefchen aus Bedlam", also eine directe Beantwortung von Sem¬
lers Schrift, hat Lessing nie geschrieben (Vgl. Redlich, Briefe an Lessing S. 973
und S. 981. Anm. 1). Die Antwort sollte in einem Nachspiel zum "Nathan",
betitelt "Der Derwisch", das Lessing im Plane hatte, gegeben werden. Daß dieser
"Derwisch" auf die eine oder die andere Weise Semler zu Leibe gehen sollte,
geht deutlich aus einem Briefe Lessings an seinen Bruder Karl hervor. Er
schreibt im April 1779 an diesen: "Aber auch das (Erklärung der arabischen
Worte im Nathan) kann entweder in einer zweiten Ausgabe Platz finden, oder
im Anhange des Derwisch: Diesen will ich diesen Sommer auch noch
Zeit finden auszuarbeiten. Denn mit Seinler will ich vorläufig
nur wegen des Anhangs anbinden und in Ansehung des Uebrigen ab¬
warten, was unsere Orthodoxen selbst dazu sagen." Karl Lessing antwortet
darauf am 20. April 1779: "Vergiß nur nicht das Nachspiel der Derwisch.
Freilich mußt du nothwendig auf Semlers klügelnden Anhang antworten; allein
Semler antwortete ich nicht eher als bis Jemand sein Gesalbadere ins Deutsche
oder Lateinische übersetzte."

Was sonst noch über den projectirten "Derwisch" vorliegt, ist folgendes.
Schon am 15. Januar 1779 schreibt Lessing an seinen Bruder Karl: "Auch


der sich nun in seine sogenannte Privatreligion zurückflüchtete, seinen bisherigen
Bundesgenossen verlassend. In dieser Stimmung schrieb er seinen „satirischen
Anhang" zu der Beantwortung der Fragmente. Nichts in dem ganzen Streite
hat Lessing mehr erzürnt als diese Halbheit, und sein Zorn machte sich in den
derbsten Ausdrücken Luft. So schreibt er in dem schon erwähnten Briefe an
Elise Reimarus vom 14. Mai 1779 mit Bezug, auf Semler: „Eben als ich
noch den ganzen fünften Act vom Nathan zu machen hatte, erhielt ich dasselbe,
und war über die impertinente Professorgans so erbittert, daß ich alle gute
Laune, die mir zum Verse machen so nöthig ist, darüber verlor und schon Ge¬
fahr lief, den ganzen Nathan darüber zu vergessen. Danken Sie auch nur Gott,
daß ich während dieser Zeit Ihnen nicht schrieb! Ich würde Ihnen geschrieben
haben, daß man nun schlechterdings nicht mehr hinter dem Berge halten müsse.
Wäre es auch nur, um so einen Esel zu beschämen, wenn sich ein Esel beschämen
läßt — Aber ich will es ihm schon indeß auf eine andere Weise
eintränken und ihm ein Briefchen ans Bedlam schreiben, daß er an mich
denken soll! Nur ein klein wenig Geduld! Mittlerweile wird ihm mein
Nathan auch schon ein wenig einbeizen." Darauf schrieb Elise Rei-
marus am 18. Mai 1779: „Auf Ihr Briefchen aus Bedlam sind wir äußerst
begierig. Wol ein fein Datum. Aber wissen Sie wol, daß Götze itzt beschäf¬
tigt ist, alle heterodoxen Steine aus Semlers Schriften aufzulesen und daraus
eine» Scheiterhaufen zu bauen, worauf er Seinler selbst verbrennen läßt?"

Dieses „Briefchen aus Bedlam", also eine directe Beantwortung von Sem¬
lers Schrift, hat Lessing nie geschrieben (Vgl. Redlich, Briefe an Lessing S. 973
und S. 981. Anm. 1). Die Antwort sollte in einem Nachspiel zum „Nathan",
betitelt „Der Derwisch", das Lessing im Plane hatte, gegeben werden. Daß dieser
„Derwisch" auf die eine oder die andere Weise Semler zu Leibe gehen sollte,
geht deutlich aus einem Briefe Lessings an seinen Bruder Karl hervor. Er
schreibt im April 1779 an diesen: „Aber auch das (Erklärung der arabischen
Worte im Nathan) kann entweder in einer zweiten Ausgabe Platz finden, oder
im Anhange des Derwisch: Diesen will ich diesen Sommer auch noch
Zeit finden auszuarbeiten. Denn mit Seinler will ich vorläufig
nur wegen des Anhangs anbinden und in Ansehung des Uebrigen ab¬
warten, was unsere Orthodoxen selbst dazu sagen." Karl Lessing antwortet
darauf am 20. April 1779: „Vergiß nur nicht das Nachspiel der Derwisch.
Freilich mußt du nothwendig auf Semlers klügelnden Anhang antworten; allein
Semler antwortete ich nicht eher als bis Jemand sein Gesalbadere ins Deutsche
oder Lateinische übersetzte."

Was sonst noch über den projectirten „Derwisch" vorliegt, ist folgendes.
Schon am 15. Januar 1779 schreibt Lessing an seinen Bruder Karl: „Auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/471>, abgerufen am 03.07.2024.