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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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sollte nach meinem ersten Anschlage noch ein Nachspiel dazu kommen, genannt
der Derwisch, welches auf eine neue Art den Faden einer Episode des Stückes
selbst wieder aufnähme und zu Ende brächte." An denselben am 16. Mai 1779:
"Habe mir nun vorgenommen ganz und gar keine Vorrede (zu Nathan) vor¬
zusetzen, sondern diese nebst dem Nachspiel der Derwisch -- zu einem zweiten
Teile oder zu einer neuen vermehrten Auflage zurückzubehalten." An denselben
am 19. Mai 1779: "Es bleibt dabei, daß ich entweder gar keine oder doch
nur eine ganz kurze Vorrede vorsetze, und daß ich alles Neblige unter dem
Titel "Der Derwisch", ein Nachspiel zum Nathan, drucken lasse."

Düntzer meint in seinen Erläuterungen zum "Nathan" über den muthmaß-
lichen Inhalt dieses "Derwisch": "Wahrscheinlich sollte der Derwisch sich aus
der Wüste wieder zu Nathan zurückgezogen fühlen. Vielleicht nahm Lessing
eine dogmatische Meinungsverschiedenheit zwischen dem Derwisch und jenen persi¬
schen Weisen an, über welche es zu erbittertem Streite gekommen sei. Auf die
ewigen theologischen Händel würde dann hier scharf hingedeutet werden und
am Ende Al Hafi zu einem thätigen Leben gewonnen worden, wohl in seine
Stelle als Schatzmeister wieder eingetreten sein" u. s. w. Nach den Ausdrücken
aber, die Lessing bei Erscheinen des Semlerschen "Anhanges" fallen laßt: "Pro¬
fessorgans", "Schubiak", u. f. w. läßt sich kaum annehmen, daß der Der¬
wisch so glimpflich ausfallen sollte. Wahrscheinlich wollte Lessing in ihm wie
in einer Art Satyrspiel seine nächsten theologischen Gegner, besonders aber seinen
halben Freund Semler, mitnehmen und zwar von dem Gedanken ausgehend,
den er in der Anmerkung zum vierten "Fragment" (Lachmannsche Ausg., Bd. 10.
S. 25) ausgesprochen hat: "Nicht also die Orthodoxie, sondern eine gewisse
schielende, hinkende, sich selbst ungleiche Orthodoxie ist so ekel." Die
Orthodoxen hatte er in derb humoristischer Weise im Patriarchen dargestellt;
nun sollte die "schielende, hinkende, sich selbst ungleiche Orthodoxie" gegeißelt
werden. Während also Lessing im "Nathan" den allgemeineren Gedanken über
das Verhältniß der drei Glaubenslehren des Christenthums, des Judenthums und
des Muhamedanismus zu einander Ausdruck gegeben und mit dem Streite, der
über die "Wolfenbüttler Fragmente" im Schoße der protestantischen Kirche aus¬
gebrochen war, im eigentlichen Sinne sich nicht abgegeben hatte, würde er wohl
im "Derwisch" den Gedanken ausgeführt haben, daß die verschiedenen Richtungen
der christlichen Kirche, speciell der protestantischen, sich schärfer gegenüber stehen,
rücksichtsloser gegen einander verfahren als Judenthum, Christenthum und Muha-
medanismus unter einander. Während er im "Nathan" ein wegen seiner Allge¬
meinheit fast neutrales Gebiet betrat, und der theologische Stoff durch die
künstlerische Behandlung, durch die Verlegung der Handlung in eine längst
vergangene Zeit, als solcher verhältnißmäßig wenig hervortrat, würde er im


sollte nach meinem ersten Anschlage noch ein Nachspiel dazu kommen, genannt
der Derwisch, welches auf eine neue Art den Faden einer Episode des Stückes
selbst wieder aufnähme und zu Ende brächte." An denselben am 16. Mai 1779:
„Habe mir nun vorgenommen ganz und gar keine Vorrede (zu Nathan) vor¬
zusetzen, sondern diese nebst dem Nachspiel der Derwisch — zu einem zweiten
Teile oder zu einer neuen vermehrten Auflage zurückzubehalten." An denselben
am 19. Mai 1779: „Es bleibt dabei, daß ich entweder gar keine oder doch
nur eine ganz kurze Vorrede vorsetze, und daß ich alles Neblige unter dem
Titel „Der Derwisch", ein Nachspiel zum Nathan, drucken lasse."

Düntzer meint in seinen Erläuterungen zum „Nathan" über den muthmaß-
lichen Inhalt dieses „Derwisch": „Wahrscheinlich sollte der Derwisch sich aus
der Wüste wieder zu Nathan zurückgezogen fühlen. Vielleicht nahm Lessing
eine dogmatische Meinungsverschiedenheit zwischen dem Derwisch und jenen persi¬
schen Weisen an, über welche es zu erbittertem Streite gekommen sei. Auf die
ewigen theologischen Händel würde dann hier scharf hingedeutet werden und
am Ende Al Hafi zu einem thätigen Leben gewonnen worden, wohl in seine
Stelle als Schatzmeister wieder eingetreten sein" u. s. w. Nach den Ausdrücken
aber, die Lessing bei Erscheinen des Semlerschen „Anhanges" fallen laßt: „Pro¬
fessorgans", „Schubiak", u. f. w. läßt sich kaum annehmen, daß der Der¬
wisch so glimpflich ausfallen sollte. Wahrscheinlich wollte Lessing in ihm wie
in einer Art Satyrspiel seine nächsten theologischen Gegner, besonders aber seinen
halben Freund Semler, mitnehmen und zwar von dem Gedanken ausgehend,
den er in der Anmerkung zum vierten „Fragment" (Lachmannsche Ausg., Bd. 10.
S. 25) ausgesprochen hat: „Nicht also die Orthodoxie, sondern eine gewisse
schielende, hinkende, sich selbst ungleiche Orthodoxie ist so ekel." Die
Orthodoxen hatte er in derb humoristischer Weise im Patriarchen dargestellt;
nun sollte die „schielende, hinkende, sich selbst ungleiche Orthodoxie" gegeißelt
werden. Während also Lessing im „Nathan" den allgemeineren Gedanken über
das Verhältniß der drei Glaubenslehren des Christenthums, des Judenthums und
des Muhamedanismus zu einander Ausdruck gegeben und mit dem Streite, der
über die „Wolfenbüttler Fragmente" im Schoße der protestantischen Kirche aus¬
gebrochen war, im eigentlichen Sinne sich nicht abgegeben hatte, würde er wohl
im „Derwisch" den Gedanken ausgeführt haben, daß die verschiedenen Richtungen
der christlichen Kirche, speciell der protestantischen, sich schärfer gegenüber stehen,
rücksichtsloser gegen einander verfahren als Judenthum, Christenthum und Muha-
medanismus unter einander. Während er im „Nathan" ein wegen seiner Allge¬
meinheit fast neutrales Gebiet betrat, und der theologische Stoff durch die
künstlerische Behandlung, durch die Verlegung der Handlung in eine längst
vergangene Zeit, als solcher verhältnißmäßig wenig hervortrat, würde er im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/472>, abgerufen am 03.07.2024.