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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Vorstudien fehlt, Vieles in vorliegendem Aufsatze nur auf absichtliche Ver¬
drehung und Verleumdung zurückführen. Die fortwährende Verwechslung
Preußens und des Reiches, die Behauptung, daß sich die äußere Politik des
Reichskanzlers in der Erregung des Hasses gegen Frankreich zusammenfasse,
daß man in Deutschland nur die Wahl zwischen Schurken und Betrogenen
habe, daß das Elsaß von den Deutschen ausgesogen und bereits verarmt sei,
die ganze Charakteristik der socialen Anschauungen und Verhältnisse in Deutsch¬
land, die "strategischen Linien", die man dem elsässischen Landessäckel aufgebürdet,
die köstliche Geschichte von den schanzenverbergenden Blumengärten, die Zer¬
störung der Familien und vieles Andere find einfache Tendenzlügen. Hier wie
bei den colossalen Uebertreibungen, z. B. betreffs der deutschen Colonie und
ihrer Einwirkung auf den elsässischen Charakter, der allgemeinen "Verjüdelung"
der deutschen Geschäftswelt, der Wirkungen des deutschen Münzsystems, der
directen Steuern u. s. w. hätten die Landsleute und Parteigenossen des Ver¬
fassers allen Grund, ihm ein: xas trvx 6c> Ms! zuzurufen.

Charakteristisch ist die noch immer durchschimmernde Hoffnung, daß es ge¬
lingen könne, den deutscheu Süden vom Norden loszureißen, eine Illusion, die
den Franzosen 1870 so verderblich wurde. Der Verfasser benutzt jede Gelegen¬
heit, um unseren südmainischen Landsleuten begreiflich zu machen, daß sie, die
wahren und civilisirten Deutschen, sich durch die Errichtung des Reiches selbst
im Lichte gestanden und nur die Geschäfte der Preußen gemacht hätten, die doch
eigentlich ein eingedrungenes fremdes Barbarenvolk seien. Und ob er viel Glück
machen wird mit seiner Versicherung, daß das deutsche Reich nur ein "Rückfall
ins Mittelalter" sei, der Deutschland aus seiner natürlichen Entwicklung gerissen
und weit in der Cultur zurückgeworfen habe? daß die Deutschen nur glücklich
und ihrem Genius entsprechend gelebt hätten in jener "liebenswürdigen" Epoche,
wo sie nur dichteten und philosophirten und den Franzosen das xrivilöAwm
oäiosuw, überließen, dem Moloch Ruhm schwere Opfer zu bringen?

Auf die Philippina gegen die neue Gerichtsordnung wolle" wir hier nicht
eingehen. Daß einzelne Ausstellungen, besonders betreffs der Höhe der Gerichts-
kosten, begründet sind, ist in Deutschland selbst vielfach anerkannt, wenn es
auch vielleicht nicht schwer sein würde, den Nachweis zu liefern, daß die Processe
den Betheiligten unter der französischen Gerichtsordnung nicht billiger zu stehen
kamen. Die Verhöhnung der Schöffengerichte beweist eben nur den absoluten
Mangel an historischem Sinne bei den Franzosen. Mit Stolz betont es der Ver¬
fasser, daß die napoleonische Gesetzgebung t^ni^ rasa gemacht und nach abstracten
Principien etwas nagelneues geschaffen habe. Daß er die großen Vorzüge der
neuen Gerichtsverfassung nicht sehen will oder kann, ist bei ihm nicht zu ver¬
wundern; aber es verdient hervorgehoben zu werden, daß er die Sache so dar-


Vorstudien fehlt, Vieles in vorliegendem Aufsatze nur auf absichtliche Ver¬
drehung und Verleumdung zurückführen. Die fortwährende Verwechslung
Preußens und des Reiches, die Behauptung, daß sich die äußere Politik des
Reichskanzlers in der Erregung des Hasses gegen Frankreich zusammenfasse,
daß man in Deutschland nur die Wahl zwischen Schurken und Betrogenen
habe, daß das Elsaß von den Deutschen ausgesogen und bereits verarmt sei,
die ganze Charakteristik der socialen Anschauungen und Verhältnisse in Deutsch¬
land, die „strategischen Linien", die man dem elsässischen Landessäckel aufgebürdet,
die köstliche Geschichte von den schanzenverbergenden Blumengärten, die Zer¬
störung der Familien und vieles Andere find einfache Tendenzlügen. Hier wie
bei den colossalen Uebertreibungen, z. B. betreffs der deutschen Colonie und
ihrer Einwirkung auf den elsässischen Charakter, der allgemeinen „Verjüdelung"
der deutschen Geschäftswelt, der Wirkungen des deutschen Münzsystems, der
directen Steuern u. s. w. hätten die Landsleute und Parteigenossen des Ver¬
fassers allen Grund, ihm ein: xas trvx 6c> Ms! zuzurufen.

Charakteristisch ist die noch immer durchschimmernde Hoffnung, daß es ge¬
lingen könne, den deutscheu Süden vom Norden loszureißen, eine Illusion, die
den Franzosen 1870 so verderblich wurde. Der Verfasser benutzt jede Gelegen¬
heit, um unseren südmainischen Landsleuten begreiflich zu machen, daß sie, die
wahren und civilisirten Deutschen, sich durch die Errichtung des Reiches selbst
im Lichte gestanden und nur die Geschäfte der Preußen gemacht hätten, die doch
eigentlich ein eingedrungenes fremdes Barbarenvolk seien. Und ob er viel Glück
machen wird mit seiner Versicherung, daß das deutsche Reich nur ein „Rückfall
ins Mittelalter" sei, der Deutschland aus seiner natürlichen Entwicklung gerissen
und weit in der Cultur zurückgeworfen habe? daß die Deutschen nur glücklich
und ihrem Genius entsprechend gelebt hätten in jener „liebenswürdigen" Epoche,
wo sie nur dichteten und philosophirten und den Franzosen das xrivilöAwm
oäiosuw, überließen, dem Moloch Ruhm schwere Opfer zu bringen?

Auf die Philippina gegen die neue Gerichtsordnung wolle» wir hier nicht
eingehen. Daß einzelne Ausstellungen, besonders betreffs der Höhe der Gerichts-
kosten, begründet sind, ist in Deutschland selbst vielfach anerkannt, wenn es
auch vielleicht nicht schwer sein würde, den Nachweis zu liefern, daß die Processe
den Betheiligten unter der französischen Gerichtsordnung nicht billiger zu stehen
kamen. Die Verhöhnung der Schöffengerichte beweist eben nur den absoluten
Mangel an historischem Sinne bei den Franzosen. Mit Stolz betont es der Ver¬
fasser, daß die napoleonische Gesetzgebung t^ni^ rasa gemacht und nach abstracten
Principien etwas nagelneues geschaffen habe. Daß er die großen Vorzüge der
neuen Gerichtsverfassung nicht sehen will oder kann, ist bei ihm nicht zu ver¬
wundern; aber es verdient hervorgehoben zu werden, daß er die Sache so dar-


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[0375] Vorstudien fehlt, Vieles in vorliegendem Aufsatze nur auf absichtliche Ver¬ drehung und Verleumdung zurückführen. Die fortwährende Verwechslung Preußens und des Reiches, die Behauptung, daß sich die äußere Politik des Reichskanzlers in der Erregung des Hasses gegen Frankreich zusammenfasse, daß man in Deutschland nur die Wahl zwischen Schurken und Betrogenen habe, daß das Elsaß von den Deutschen ausgesogen und bereits verarmt sei, die ganze Charakteristik der socialen Anschauungen und Verhältnisse in Deutsch¬ land, die „strategischen Linien", die man dem elsässischen Landessäckel aufgebürdet, die köstliche Geschichte von den schanzenverbergenden Blumengärten, die Zer¬ störung der Familien und vieles Andere find einfache Tendenzlügen. Hier wie bei den colossalen Uebertreibungen, z. B. betreffs der deutschen Colonie und ihrer Einwirkung auf den elsässischen Charakter, der allgemeinen „Verjüdelung" der deutschen Geschäftswelt, der Wirkungen des deutschen Münzsystems, der directen Steuern u. s. w. hätten die Landsleute und Parteigenossen des Ver¬ fassers allen Grund, ihm ein: xas trvx 6c> Ms! zuzurufen. Charakteristisch ist die noch immer durchschimmernde Hoffnung, daß es ge¬ lingen könne, den deutscheu Süden vom Norden loszureißen, eine Illusion, die den Franzosen 1870 so verderblich wurde. Der Verfasser benutzt jede Gelegen¬ heit, um unseren südmainischen Landsleuten begreiflich zu machen, daß sie, die wahren und civilisirten Deutschen, sich durch die Errichtung des Reiches selbst im Lichte gestanden und nur die Geschäfte der Preußen gemacht hätten, die doch eigentlich ein eingedrungenes fremdes Barbarenvolk seien. Und ob er viel Glück machen wird mit seiner Versicherung, daß das deutsche Reich nur ein „Rückfall ins Mittelalter" sei, der Deutschland aus seiner natürlichen Entwicklung gerissen und weit in der Cultur zurückgeworfen habe? daß die Deutschen nur glücklich und ihrem Genius entsprechend gelebt hätten in jener „liebenswürdigen" Epoche, wo sie nur dichteten und philosophirten und den Franzosen das xrivilöAwm oäiosuw, überließen, dem Moloch Ruhm schwere Opfer zu bringen? Auf die Philippina gegen die neue Gerichtsordnung wolle» wir hier nicht eingehen. Daß einzelne Ausstellungen, besonders betreffs der Höhe der Gerichts- kosten, begründet sind, ist in Deutschland selbst vielfach anerkannt, wenn es auch vielleicht nicht schwer sein würde, den Nachweis zu liefern, daß die Processe den Betheiligten unter der französischen Gerichtsordnung nicht billiger zu stehen kamen. Die Verhöhnung der Schöffengerichte beweist eben nur den absoluten Mangel an historischem Sinne bei den Franzosen. Mit Stolz betont es der Ver¬ fasser, daß die napoleonische Gesetzgebung t^ni^ rasa gemacht und nach abstracten Principien etwas nagelneues geschaffen habe. Daß er die großen Vorzüge der neuen Gerichtsverfassung nicht sehen will oder kann, ist bei ihm nicht zu ver¬ wundern; aber es verdient hervorgehoben zu werden, daß er die Sache so dar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/375>, abgerufen am 22.07.2024.