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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Familien oder Stämmen bestände, und daß der Stamm des einen dem des
anderen einen Kopf schuldig wäre. Die Blutrache ist wie auf Korsika auch
hier eine heilige Pflicht, und die Moral dieser halbwilden Bergbewohner beruht
auf dem Grundsatze: "Wer sich nicht rächt, der rechtfertigt sich nicht; wer Un¬
recht vergiebt, hat es gut geheißen". Der Mord des Fcmülienfeindes wird ver¬
tragsmäßig verhandelt und testamentarisch anbefohlen. Auf dem Todtenbette
Pflegt der Familienvater die gefallenen Köpfe seines Stammes zu zählen und
seinen Söhnen die Rache in aller Frömmigkeit ans Herz zu legen.

Der Albanese haßt die Fremden, und als solche gelten ihm nicht bloß die
Serben und Griechen, sondern auch die Türken- Wiederholt hat er sich gegen
die letzteren empört und sich von-ihnen unabhängig zu machen versucht. Aus
der Mitte der Gegen ging im 15. Jahrhundert der gewaltige Vorkämpfer gegen
den Islam, der "Sieger in vierzig Schlachten", Skcmderbeg oder Georg Castriota
hervor, den die albanesischen Balladen noch heute als den "Drachen Albaniens"
feiern. Aus der Mitte der Tosken erstand um den Anfang unseres Jahrhun¬
derts Ali Pascha von Janina, der schlaue und rücksichtslose Despot, der, in der
Schule des Faustrechts und der Verwilderung erzogen, sich fast ganz Albanien
unterwarf und Jahrzehnte lang beinahe völlig unabhängig von der Pforte
herrschte, indem er ebenso energisch als verschlagen die Consequenzen der ihn
umgebenden Barbarei zog und sich zum Vertreter der politischen und religiösen
Ideen machte, die sein Volk bewegten. Nach der Schlacht bei Navarino erhoben
die Albanesen unter Arslan Bey und Mustapha Pascha abermals die Fahne
des Aufstandes gegen die Türkenherrschaft, aber Reschid Pascha unterwarf sie,
indem er ihre Häuptlinge zu gütlicher Ausgleichung der streitigen Punkte nach
Monastir einlud und sie dort während der ihnen zu Ehren veranstalteten Fest¬
lichkeit verrätherisch ermorden ließ. Eine anderthalb Jahrzehnte später auf
Grund der von der Pforte angeordneten Truppenaushebung ausgebrochene Em¬
pörung der Albanesen breitete sich bis an die Landschaften Bulgariens aus.
Omer Pascha aber schlug die Insurgenten bei Kaplanly und unterjochte durch
das Treffen bei Kalkandelen und die Eroberung von Pristina die ganze Provinz
von neuem. Ein neuer Aufstand, der im Sommer 1847 ausbrach, wurde rasch
niedergeworfen. Noch während des Griechenaufstandes von 1854 gährte es
unter den Albanesen gewaltig gegen die türkische Herrschaft, doch kam die nicht
genügend vorbereitete Revolution nicht zum Ausbruche.

Die jüngste Zeit hat eine neue Erhebung zur Reife gebracht, die, wenn
nicht Alles täuscht, sehr schwere Verwicklungen und vielleicht eine Lostrennung
Albaniens von dem Reste der Provinzen im Gefolge haben wird, welche dem
Sultan auf der Balkanhalbinsel noch geblieben sind. Der Berliner Congreß
hatte an verschiedenen Punkten türkisches Gebiet an Völker und Mächte vertheilt,


Familien oder Stämmen bestände, und daß der Stamm des einen dem des
anderen einen Kopf schuldig wäre. Die Blutrache ist wie auf Korsika auch
hier eine heilige Pflicht, und die Moral dieser halbwilden Bergbewohner beruht
auf dem Grundsatze: „Wer sich nicht rächt, der rechtfertigt sich nicht; wer Un¬
recht vergiebt, hat es gut geheißen". Der Mord des Fcmülienfeindes wird ver¬
tragsmäßig verhandelt und testamentarisch anbefohlen. Auf dem Todtenbette
Pflegt der Familienvater die gefallenen Köpfe seines Stammes zu zählen und
seinen Söhnen die Rache in aller Frömmigkeit ans Herz zu legen.

Der Albanese haßt die Fremden, und als solche gelten ihm nicht bloß die
Serben und Griechen, sondern auch die Türken- Wiederholt hat er sich gegen
die letzteren empört und sich von-ihnen unabhängig zu machen versucht. Aus
der Mitte der Gegen ging im 15. Jahrhundert der gewaltige Vorkämpfer gegen
den Islam, der „Sieger in vierzig Schlachten", Skcmderbeg oder Georg Castriota
hervor, den die albanesischen Balladen noch heute als den „Drachen Albaniens"
feiern. Aus der Mitte der Tosken erstand um den Anfang unseres Jahrhun¬
derts Ali Pascha von Janina, der schlaue und rücksichtslose Despot, der, in der
Schule des Faustrechts und der Verwilderung erzogen, sich fast ganz Albanien
unterwarf und Jahrzehnte lang beinahe völlig unabhängig von der Pforte
herrschte, indem er ebenso energisch als verschlagen die Consequenzen der ihn
umgebenden Barbarei zog und sich zum Vertreter der politischen und religiösen
Ideen machte, die sein Volk bewegten. Nach der Schlacht bei Navarino erhoben
die Albanesen unter Arslan Bey und Mustapha Pascha abermals die Fahne
des Aufstandes gegen die Türkenherrschaft, aber Reschid Pascha unterwarf sie,
indem er ihre Häuptlinge zu gütlicher Ausgleichung der streitigen Punkte nach
Monastir einlud und sie dort während der ihnen zu Ehren veranstalteten Fest¬
lichkeit verrätherisch ermorden ließ. Eine anderthalb Jahrzehnte später auf
Grund der von der Pforte angeordneten Truppenaushebung ausgebrochene Em¬
pörung der Albanesen breitete sich bis an die Landschaften Bulgariens aus.
Omer Pascha aber schlug die Insurgenten bei Kaplanly und unterjochte durch
das Treffen bei Kalkandelen und die Eroberung von Pristina die ganze Provinz
von neuem. Ein neuer Aufstand, der im Sommer 1847 ausbrach, wurde rasch
niedergeworfen. Noch während des Griechenaufstandes von 1854 gährte es
unter den Albanesen gewaltig gegen die türkische Herrschaft, doch kam die nicht
genügend vorbereitete Revolution nicht zum Ausbruche.

Die jüngste Zeit hat eine neue Erhebung zur Reife gebracht, die, wenn
nicht Alles täuscht, sehr schwere Verwicklungen und vielleicht eine Lostrennung
Albaniens von dem Reste der Provinzen im Gefolge haben wird, welche dem
Sultan auf der Balkanhalbinsel noch geblieben sind. Der Berliner Congreß
hatte an verschiedenen Punkten türkisches Gebiet an Völker und Mächte vertheilt,


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[0359] Familien oder Stämmen bestände, und daß der Stamm des einen dem des anderen einen Kopf schuldig wäre. Die Blutrache ist wie auf Korsika auch hier eine heilige Pflicht, und die Moral dieser halbwilden Bergbewohner beruht auf dem Grundsatze: „Wer sich nicht rächt, der rechtfertigt sich nicht; wer Un¬ recht vergiebt, hat es gut geheißen". Der Mord des Fcmülienfeindes wird ver¬ tragsmäßig verhandelt und testamentarisch anbefohlen. Auf dem Todtenbette Pflegt der Familienvater die gefallenen Köpfe seines Stammes zu zählen und seinen Söhnen die Rache in aller Frömmigkeit ans Herz zu legen. Der Albanese haßt die Fremden, und als solche gelten ihm nicht bloß die Serben und Griechen, sondern auch die Türken- Wiederholt hat er sich gegen die letzteren empört und sich von-ihnen unabhängig zu machen versucht. Aus der Mitte der Gegen ging im 15. Jahrhundert der gewaltige Vorkämpfer gegen den Islam, der „Sieger in vierzig Schlachten", Skcmderbeg oder Georg Castriota hervor, den die albanesischen Balladen noch heute als den „Drachen Albaniens" feiern. Aus der Mitte der Tosken erstand um den Anfang unseres Jahrhun¬ derts Ali Pascha von Janina, der schlaue und rücksichtslose Despot, der, in der Schule des Faustrechts und der Verwilderung erzogen, sich fast ganz Albanien unterwarf und Jahrzehnte lang beinahe völlig unabhängig von der Pforte herrschte, indem er ebenso energisch als verschlagen die Consequenzen der ihn umgebenden Barbarei zog und sich zum Vertreter der politischen und religiösen Ideen machte, die sein Volk bewegten. Nach der Schlacht bei Navarino erhoben die Albanesen unter Arslan Bey und Mustapha Pascha abermals die Fahne des Aufstandes gegen die Türkenherrschaft, aber Reschid Pascha unterwarf sie, indem er ihre Häuptlinge zu gütlicher Ausgleichung der streitigen Punkte nach Monastir einlud und sie dort während der ihnen zu Ehren veranstalteten Fest¬ lichkeit verrätherisch ermorden ließ. Eine anderthalb Jahrzehnte später auf Grund der von der Pforte angeordneten Truppenaushebung ausgebrochene Em¬ pörung der Albanesen breitete sich bis an die Landschaften Bulgariens aus. Omer Pascha aber schlug die Insurgenten bei Kaplanly und unterjochte durch das Treffen bei Kalkandelen und die Eroberung von Pristina die ganze Provinz von neuem. Ein neuer Aufstand, der im Sommer 1847 ausbrach, wurde rasch niedergeworfen. Noch während des Griechenaufstandes von 1854 gährte es unter den Albanesen gewaltig gegen die türkische Herrschaft, doch kam die nicht genügend vorbereitete Revolution nicht zum Ausbruche. Die jüngste Zeit hat eine neue Erhebung zur Reife gebracht, die, wenn nicht Alles täuscht, sehr schwere Verwicklungen und vielleicht eine Lostrennung Albaniens von dem Reste der Provinzen im Gefolge haben wird, welche dem Sultan auf der Balkanhalbinsel noch geblieben sind. Der Berliner Congreß hatte an verschiedenen Punkten türkisches Gebiet an Völker und Mächte vertheilt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/359>, abgerufen am 01.07.2024.