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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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folgte und sich erst allmählich und stufenweise zur Freiheit emporarbeitete.
Zweitens aber muß ich doch betonen, daß die Heiligenscheine des Petronillabildes
keineswegs mehr so absolut unperspectivisch sind, wie die Rinder der Schule
Mottos, sondern daß sich ein Streben nach perspectivisch richtiger Gestaltung
schon deutlich genug in ihnen bemerkbar macht, um als Vorstudium desselben
jungen Künstlers zu der Vollendung gelten zu können, die ihm erst in seinen
späteren Bildern (als er doch immer erst 25--28 Jahre alt war) gelang. Aber
auch die Perspective der Straße des Hintergrundes auf diesem Gemälde, sowie
die frische Individualität der Gestalten, leitet, was man auch dagegen eingewandt
hat, trotz einer gewissen gothischen Haltlosigkeit des Ganzen, doch schon deutlich
zu Masaccios reiferen Darstellungen hinüber. Ich bedauere ferner, M. Thausings
Argumentation nicht einmal zu verstehen, wenn er sagt: "Darüber dürfen wir
uns nicht täuschen, wenn Masaccio nicht mit Bewußtsein, sondern nur durch
einen glücklichen Wurf seine letzten Werke schuf, dann müssen wir die hergebrachte
Ansicht über seine Verdienste stark modificiren, und sein Ruhm steht und fällt
mit dem Antheil Masolinos an den Wandgemälden im Carmine." Muß denn
jedes Genie fertig, wie Pallas Athene aus dem Haupte des Zeus, geboren
werden? Wäre Masaccio größer, wenn von ihm, wie von so vielen, die Werke
seiner Versuchszeit vor seinem 25. Lebensjahre nicht erhalten wären? Wächst
der gewaltige Meister uns nicht gerade dadurch, daß wir sein unablässiges
Ringen und Streben bis zur Vollendung verfolgen können, doppelt und dreifach
ans Herz? Ueberliefert Vasari uns, wie auch Thausing hervorhebt, nicht aus¬
drücklich, daß Brunellesco ihn in der Perspective unterrichtet habe? Wozu
brauchte er Brunellescos Unterricht, wenn er nicht einsah, daß seine Perspective
noch verbesserungsfähig sei? Und ist das Bewußtsein, mit dem er arbeitet,
nicht um so größer, je klarer er sich früherer Schwächen bewußt gewesen ist?

Nein, eine exacte Beweisführung vermag ich in jenen Ausführungen nicht
zu erkenne". Ich bin aber auch weit entfernt davon, eine solche für mich in
Anspruch zu nehmen. Es wird, da Vasari's Angaben sich mit der Stilkritik
und mit der Inschrift in Castiglione nicht alle vereinigen lassen, naturgemäß
verschiedene Wege geben, diesen Zwiespalt auszugleichen. Vielleicht ist die Sache
in Wirklichkeit noch ganz anders gewesen, als irgend einer von uns sie sich
vorstellt. Inzwischen werden wir zufrieden sein müssen, die eine oder die andere
Ansicht mit überwiegenden Gründen wahrscheinlicher oder weniger unwahrschein¬
lich zu machen; und in dieser Beziehung habe ich noch, wie ich versprochen,
einige zusammenfassende Schlußbemerkungen zu machen.

Um Vasari und um die Stilkritik handelt es sich. Vielleicht würden die
verehrten Gegner unserer Ansicht gar nicht ans den Gedanken gekommen sein,
die Predigt Petri und das Petronillabild dein Masaccio abzusprechen, wenn


folgte und sich erst allmählich und stufenweise zur Freiheit emporarbeitete.
Zweitens aber muß ich doch betonen, daß die Heiligenscheine des Petronillabildes
keineswegs mehr so absolut unperspectivisch sind, wie die Rinder der Schule
Mottos, sondern daß sich ein Streben nach perspectivisch richtiger Gestaltung
schon deutlich genug in ihnen bemerkbar macht, um als Vorstudium desselben
jungen Künstlers zu der Vollendung gelten zu können, die ihm erst in seinen
späteren Bildern (als er doch immer erst 25—28 Jahre alt war) gelang. Aber
auch die Perspective der Straße des Hintergrundes auf diesem Gemälde, sowie
die frische Individualität der Gestalten, leitet, was man auch dagegen eingewandt
hat, trotz einer gewissen gothischen Haltlosigkeit des Ganzen, doch schon deutlich
zu Masaccios reiferen Darstellungen hinüber. Ich bedauere ferner, M. Thausings
Argumentation nicht einmal zu verstehen, wenn er sagt: „Darüber dürfen wir
uns nicht täuschen, wenn Masaccio nicht mit Bewußtsein, sondern nur durch
einen glücklichen Wurf seine letzten Werke schuf, dann müssen wir die hergebrachte
Ansicht über seine Verdienste stark modificiren, und sein Ruhm steht und fällt
mit dem Antheil Masolinos an den Wandgemälden im Carmine." Muß denn
jedes Genie fertig, wie Pallas Athene aus dem Haupte des Zeus, geboren
werden? Wäre Masaccio größer, wenn von ihm, wie von so vielen, die Werke
seiner Versuchszeit vor seinem 25. Lebensjahre nicht erhalten wären? Wächst
der gewaltige Meister uns nicht gerade dadurch, daß wir sein unablässiges
Ringen und Streben bis zur Vollendung verfolgen können, doppelt und dreifach
ans Herz? Ueberliefert Vasari uns, wie auch Thausing hervorhebt, nicht aus¬
drücklich, daß Brunellesco ihn in der Perspective unterrichtet habe? Wozu
brauchte er Brunellescos Unterricht, wenn er nicht einsah, daß seine Perspective
noch verbesserungsfähig sei? Und ist das Bewußtsein, mit dem er arbeitet,
nicht um so größer, je klarer er sich früherer Schwächen bewußt gewesen ist?

Nein, eine exacte Beweisführung vermag ich in jenen Ausführungen nicht
zu erkenne». Ich bin aber auch weit entfernt davon, eine solche für mich in
Anspruch zu nehmen. Es wird, da Vasari's Angaben sich mit der Stilkritik
und mit der Inschrift in Castiglione nicht alle vereinigen lassen, naturgemäß
verschiedene Wege geben, diesen Zwiespalt auszugleichen. Vielleicht ist die Sache
in Wirklichkeit noch ganz anders gewesen, als irgend einer von uns sie sich
vorstellt. Inzwischen werden wir zufrieden sein müssen, die eine oder die andere
Ansicht mit überwiegenden Gründen wahrscheinlicher oder weniger unwahrschein¬
lich zu machen; und in dieser Beziehung habe ich noch, wie ich versprochen,
einige zusammenfassende Schlußbemerkungen zu machen.

Um Vasari und um die Stilkritik handelt es sich. Vielleicht würden die
verehrten Gegner unserer Ansicht gar nicht ans den Gedanken gekommen sein,
die Predigt Petri und das Petronillabild dein Masaccio abzusprechen, wenn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/335>, abgerufen am 22.07.2024.