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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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schiedenheit größer, als sie mir in der Erinnerung lebte und als ich sie mir
daheim durch Photographien vergegenwärtigen konnte. Trotz alledem aber konnte
ich mir nicht helfen, immer klarer einzusehen, daß der Stilunterschied zwischen
den einzelnen in der Brancacci-Capelle erhaltenen Gemälden unter sich doch
noch lange kein so fundamentaler ist als derjenige zwischen ihnen allen und
den viel primitiveren Werken in Castiglione; und immer überzeugender tönte
mir des alten Ernst Foersters Ausruf in Bezug auf diesen Vergleich ins Ohr:
"Gegen alle nur möglichen Dommente und sonstigen Beglaubigungen antwortet
die Kritik mit: niemals!" Wer nun aber nicht mit Ernst Foerfter den Maso-
lino verdoppeln will, dem bleibt in der That nichts anderes übrig, als mit Crowe
und Cavalcaselle zu leugnen, daß Masolino an diesen erhaltenen Bildern der
Brancacci-Capelle theil habe. Es scheint mir nach wie vor unmöglich zu sein,
die Denkbarkeit, ja selbst die Wahrscheinlichkeit zu leugnen, daß ein so junger
Künstler, wie Masaccio es zur Zeit der Ausführung aller seiner Bilder war,
und ein Künstler, der in einer gährenden Uebergangszeit selbst als Neuerer
auftrat, auch seinerseits eine Entwicklung durchgemacht habe, wie von den Fresken
in San Elemente zur Predigt Petri und von dem Petronillabilde zum Fischzug,
zur Taufe, zum Almosen und zur Krankenheilung durch den Schatten, ja nicht
am wenigsten, wie vom Sündenfalle zur Vertreibung aus dem Paradiese.

M. Thausing hat in dem erwähnten Artikel der Lützow'schen Zeitschrift
geglaubt, die ganze Frage aus dem Bereiche subjectiven Stilgefühls in dasjenige
objectiver historischer Wahrheit, ja "exacten Beweisverfahrens" hinüberzuleiten,
indem er in trefflich durchgeführter Weise die unperspectivische Behandlung der
Heiligenscheine auf den von ihm mit Vasari dem Masolino zugeschriebenen
Bildern der perspectivischen Behandlung derselben auf Masaccio's unbestrittenen
Bildern gegenübergestellt, ja zu dem Zwecke die beiden Petrusköpfe mit ihren
verschieden behandelten Heiligenscheinen neben einander abgebildet hat. Ich
würde mich von keinem Forscher lieber belehren lassen als von M. Thausing.
Dennoch bedaure ich, in diesem Falle weit davon entfernt zu sein, seine
verführerischen Schlußfolgerungen für ein "exactes Beweisverfahren" gelten zu
lassen. Zunächst kann ich nicht anerkennen, daß die perspectivische Entwicklung
der Heiligenscheine mehr beweisen sollte als die Gesammtentwicklung der Per-
spective, um die sich damals gerade alles drehte. Daß jene früheren Bilder
eine mangelhaftere Perspective zeigen als die späteren, ist keinem eingefallen zu
leugnen, daß das auch bei den Heiligenscheinen der Fall ist, ist nichts besonderes.
Aber bleiben wir bei den Heiligenscheinen! Mir scheint es viel wahrscheinlicher,
daß Masaccio nicht mit der Fähigkeit, perspectivische Heiligenscheine zu malen,
auf die Welt gekommen sei, sondern daß er, früh thätig wie er war, in seinen
früheren Werken auch hierin, wie in allen Dingen, naturgemäß seinem Lehrer


schiedenheit größer, als sie mir in der Erinnerung lebte und als ich sie mir
daheim durch Photographien vergegenwärtigen konnte. Trotz alledem aber konnte
ich mir nicht helfen, immer klarer einzusehen, daß der Stilunterschied zwischen
den einzelnen in der Brancacci-Capelle erhaltenen Gemälden unter sich doch
noch lange kein so fundamentaler ist als derjenige zwischen ihnen allen und
den viel primitiveren Werken in Castiglione; und immer überzeugender tönte
mir des alten Ernst Foersters Ausruf in Bezug auf diesen Vergleich ins Ohr:
„Gegen alle nur möglichen Dommente und sonstigen Beglaubigungen antwortet
die Kritik mit: niemals!" Wer nun aber nicht mit Ernst Foerfter den Maso-
lino verdoppeln will, dem bleibt in der That nichts anderes übrig, als mit Crowe
und Cavalcaselle zu leugnen, daß Masolino an diesen erhaltenen Bildern der
Brancacci-Capelle theil habe. Es scheint mir nach wie vor unmöglich zu sein,
die Denkbarkeit, ja selbst die Wahrscheinlichkeit zu leugnen, daß ein so junger
Künstler, wie Masaccio es zur Zeit der Ausführung aller seiner Bilder war,
und ein Künstler, der in einer gährenden Uebergangszeit selbst als Neuerer
auftrat, auch seinerseits eine Entwicklung durchgemacht habe, wie von den Fresken
in San Elemente zur Predigt Petri und von dem Petronillabilde zum Fischzug,
zur Taufe, zum Almosen und zur Krankenheilung durch den Schatten, ja nicht
am wenigsten, wie vom Sündenfalle zur Vertreibung aus dem Paradiese.

M. Thausing hat in dem erwähnten Artikel der Lützow'schen Zeitschrift
geglaubt, die ganze Frage aus dem Bereiche subjectiven Stilgefühls in dasjenige
objectiver historischer Wahrheit, ja „exacten Beweisverfahrens" hinüberzuleiten,
indem er in trefflich durchgeführter Weise die unperspectivische Behandlung der
Heiligenscheine auf den von ihm mit Vasari dem Masolino zugeschriebenen
Bildern der perspectivischen Behandlung derselben auf Masaccio's unbestrittenen
Bildern gegenübergestellt, ja zu dem Zwecke die beiden Petrusköpfe mit ihren
verschieden behandelten Heiligenscheinen neben einander abgebildet hat. Ich
würde mich von keinem Forscher lieber belehren lassen als von M. Thausing.
Dennoch bedaure ich, in diesem Falle weit davon entfernt zu sein, seine
verführerischen Schlußfolgerungen für ein „exactes Beweisverfahren" gelten zu
lassen. Zunächst kann ich nicht anerkennen, daß die perspectivische Entwicklung
der Heiligenscheine mehr beweisen sollte als die Gesammtentwicklung der Per-
spective, um die sich damals gerade alles drehte. Daß jene früheren Bilder
eine mangelhaftere Perspective zeigen als die späteren, ist keinem eingefallen zu
leugnen, daß das auch bei den Heiligenscheinen der Fall ist, ist nichts besonderes.
Aber bleiben wir bei den Heiligenscheinen! Mir scheint es viel wahrscheinlicher,
daß Masaccio nicht mit der Fähigkeit, perspectivische Heiligenscheine zu malen,
auf die Welt gekommen sei, sondern daß er, früh thätig wie er war, in seinen
früheren Werken auch hierin, wie in allen Dingen, naturgemäß seinem Lehrer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/334>, abgerufen am 22.07.2024.