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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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worden sind, wird den Reichthum des Dichters anerkennen, ohne darum der
Meinung zu sein, daß er sich über die ihm eigenthümliche Weise der Erzählung
hätte erheben sollen. Das Beharren bei dieser Weise scheint aus einer so seltenen
als sicheren Selbstschätzung hervorgegangen. Nehmen wir an, daß Storm den
Versuch gemacht hätte, ein umfassenderes größeres Stück norddeutschen Lebens
in einem Roman darzustellen, so würde er es unmöglich gefunden haben, den
düsteren, herben, unschönen und anmuthlosen Seiten eben dieses Lebens so aus¬
zuweichen, wie es jetzt der Fall ist. Kaum ein und das andere Mal ragen die
harten Ecken der Brutalität, des Besitz- und Geldhochmnths, des hohlen Vor¬
urtheils in seine poetische Welt herein, kaum in einer oder der anderen kleinen
Schöpfung (wie in der Novelle "Im Schloß") erscheinen sie bestimmend. Alles,
was Storm darstellt, dünkt uns so wahr als warm und liebenswürdig; mit
dein Anspruch aber, die Totalität des Lebens zu sein, von dem diese Erzählungen
Theile und die herzgewinnendsten Züge wiedergeben, würde die Wahrheit hin¬
fällig. Gehen doch, nach unserer Empfindung, selbst gewisse Sprünge der Hand¬
lung in der kleineren Form, in der unser Dichter Meister ist, wesentlich aus
der Scheu hervor, die zwischen den poetischen Episoden liegenden Intervalle er¬
freulicher wie unerfreulicher Alltäglichkeit in seine Darstellung einzubeziehen.
Soweit hat uns ja der unbedingte Realismus noch nicht getrieben, daß wir
einem Poeten, der wirkliches Leben hat und im schlichtesten Leben das Gold
der Poesie leuchte" sieht, seine Frende an der Anmuth und Schönheit verargen
möchten. Auch auf die Gefahr hin, daß diese Freude da und dort (glücklicher¬
weise selten), ein wenig pretiös und fast manieristisch werde. Ferner aber unter¬
liegt es keinem Zweifel, daß das in Storm lebendige Formgefühl in der ge¬
drängten, künstlerisch gleichmäßiger durchzubildenden, von allem bloß referiren-
den und raisonnirenden Beiwerk freibleibenden Novelle sich besser genugthuen
kann als in größeren Gebilden. Für unseren Dichter sind eine Reihe von
Charakterzügen, von Lebensbeobachtungen wichtig, er setzt sie ins vollste Licht, die
w größeren Gebilden verschwinden oder zurücktreten müssen. Wir dürfen annehmen,
daß ein so feinsinniger, der künstlerischen Reflexion bei aller Unmittelbarkeit
keineswegs unzugänglicher Dichter das Maß der Ausdehnung seiner Schöpferkraft
und die günstigste Form für die Darlegung feiner Eigenthümlichkeit streng geprüft
und das Rechte in der Hauptsache getroffen haben wird.

Wir verzichten schließlich daraus, die Fülle der poetischen Einzelheiten, der
..vortrefflichen Sachen" (wie ein englischer Kritiker sagen würde) aufzuzählen oder
besonders hervorzuheben. Dergleichen will angeschaut, will genossen und auf¬
genommen sein, und alle Kritik kann zuletzt nur den einen Endzweck haben, zur
Aufnahme und zum Genuß des Vortrefflichen einzuladen. Wenn es bei unseren
gegenwärtigen literarischen Zuständen eine leidige Wahrheit ist, daß die sach-


worden sind, wird den Reichthum des Dichters anerkennen, ohne darum der
Meinung zu sein, daß er sich über die ihm eigenthümliche Weise der Erzählung
hätte erheben sollen. Das Beharren bei dieser Weise scheint aus einer so seltenen
als sicheren Selbstschätzung hervorgegangen. Nehmen wir an, daß Storm den
Versuch gemacht hätte, ein umfassenderes größeres Stück norddeutschen Lebens
in einem Roman darzustellen, so würde er es unmöglich gefunden haben, den
düsteren, herben, unschönen und anmuthlosen Seiten eben dieses Lebens so aus¬
zuweichen, wie es jetzt der Fall ist. Kaum ein und das andere Mal ragen die
harten Ecken der Brutalität, des Besitz- und Geldhochmnths, des hohlen Vor¬
urtheils in seine poetische Welt herein, kaum in einer oder der anderen kleinen
Schöpfung (wie in der Novelle „Im Schloß") erscheinen sie bestimmend. Alles,
was Storm darstellt, dünkt uns so wahr als warm und liebenswürdig; mit
dein Anspruch aber, die Totalität des Lebens zu sein, von dem diese Erzählungen
Theile und die herzgewinnendsten Züge wiedergeben, würde die Wahrheit hin¬
fällig. Gehen doch, nach unserer Empfindung, selbst gewisse Sprünge der Hand¬
lung in der kleineren Form, in der unser Dichter Meister ist, wesentlich aus
der Scheu hervor, die zwischen den poetischen Episoden liegenden Intervalle er¬
freulicher wie unerfreulicher Alltäglichkeit in seine Darstellung einzubeziehen.
Soweit hat uns ja der unbedingte Realismus noch nicht getrieben, daß wir
einem Poeten, der wirkliches Leben hat und im schlichtesten Leben das Gold
der Poesie leuchte» sieht, seine Frende an der Anmuth und Schönheit verargen
möchten. Auch auf die Gefahr hin, daß diese Freude da und dort (glücklicher¬
weise selten), ein wenig pretiös und fast manieristisch werde. Ferner aber unter¬
liegt es keinem Zweifel, daß das in Storm lebendige Formgefühl in der ge¬
drängten, künstlerisch gleichmäßiger durchzubildenden, von allem bloß referiren-
den und raisonnirenden Beiwerk freibleibenden Novelle sich besser genugthuen
kann als in größeren Gebilden. Für unseren Dichter sind eine Reihe von
Charakterzügen, von Lebensbeobachtungen wichtig, er setzt sie ins vollste Licht, die
w größeren Gebilden verschwinden oder zurücktreten müssen. Wir dürfen annehmen,
daß ein so feinsinniger, der künstlerischen Reflexion bei aller Unmittelbarkeit
keineswegs unzugänglicher Dichter das Maß der Ausdehnung seiner Schöpferkraft
und die günstigste Form für die Darlegung feiner Eigenthümlichkeit streng geprüft
und das Rechte in der Hauptsache getroffen haben wird.

Wir verzichten schließlich daraus, die Fülle der poetischen Einzelheiten, der
..vortrefflichen Sachen" (wie ein englischer Kritiker sagen würde) aufzuzählen oder
besonders hervorzuheben. Dergleichen will angeschaut, will genossen und auf¬
genommen sein, und alle Kritik kann zuletzt nur den einen Endzweck haben, zur
Aufnahme und zum Genuß des Vortrefflichen einzuladen. Wenn es bei unseren
gegenwärtigen literarischen Zuständen eine leidige Wahrheit ist, daß die sach-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/327>, abgerufen am 22.07.2024.