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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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liebste Kritik beinahe nichts mehr zur Abwehr des Ungeschmacks und der Bar¬
barei zu thun vermag, so darf man doch vielleicht noch hoffen, daß die pietät¬
volle Würdigung der Natur und künstlerischen Entwicklung eines Poeten einige
Augen auf ihn lenken wird. Denn auch das ist eine Wahrheit, daß ein Poet
Mode sein und nach seinem eigensten Werthe dennoch zahlreichen seiner Leser
unbekannt bleiben kann.




Masaccio und Masolino.
Eine kunst geschichtliche Streitsrage.
Karl Wo ermann. Von

Zahlreicher vielleicht, als in den meisten anderen Wissenschaften, sind in
der Kunstgeschichte die Streitfrage" rein akademischer Natur, bei denen es sich
zwar für den Forscher um hochwichtige Principien, ja um seine ganze Methode
handeln kann, ohne daß man ihnen jedoch fürs Leben, für die Kunstanschauung
oder die Kunstübung auch nur die geringste Wichtigkeit beilegen könnte. Nur
glaube man nicht, daß alle kunstgeschichtlichen Streitfragen so rein akademischer
Natur seien. Die Frage z. B., ob Dresden oder Darmstadt die echte Madonna
Hans Holbeins besitzt, ist in mehr als in einer Beziehung von der tiefgreifendsten
praktischen Bedeutung. Daß die Streitfrage, ob einige in verschiedenen Städten
Italiens im ersten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts gemalte Wandbilder
von der Hand des großen, bahnbrechenden Neuerers, den die Kunstgeschichte
unter den Namen Masaccio feiert, oder von dessen Lehrer Masolino herrühren,
in irgend einer Hinsicht praktische Folgen haben könne, ist nun freilich durchaus
nicht zu behaupten. Sie mag ruhig zu den akademischen Fragen, deren Lösung
zunächst nur die Wissenschaft selbst interessirt, gerechnet, und sie muß daher auch
in der ruhigsten und leidenschaftslosesten Weise erörtert werden. Aber sie gehört
sicher zu denjenigen akademischen Streitfragen, denen die weitesten Kreise der
Kunstfreunde ihre Theilnahme nicht versagen werden, weil sie sich auf einen
Künstler bezieht, zu welchem Rafael und Michel Angelo als zu ihrem Meister
emporgeschaut haben, und auf Gemälde, in denen der Welt die Sonne einer
neuen Kunstauffassung aufgegangen ist.

Es sind drei Freskencyclen, die bei dieser Frage in Betracht kommen:
Zunächst die Deckengemälde des Chors der Collegiatkirche zu Castiglione


liebste Kritik beinahe nichts mehr zur Abwehr des Ungeschmacks und der Bar¬
barei zu thun vermag, so darf man doch vielleicht noch hoffen, daß die pietät¬
volle Würdigung der Natur und künstlerischen Entwicklung eines Poeten einige
Augen auf ihn lenken wird. Denn auch das ist eine Wahrheit, daß ein Poet
Mode sein und nach seinem eigensten Werthe dennoch zahlreichen seiner Leser
unbekannt bleiben kann.




Masaccio und Masolino.
Eine kunst geschichtliche Streitsrage.
Karl Wo ermann. Von

Zahlreicher vielleicht, als in den meisten anderen Wissenschaften, sind in
der Kunstgeschichte die Streitfrage» rein akademischer Natur, bei denen es sich
zwar für den Forscher um hochwichtige Principien, ja um seine ganze Methode
handeln kann, ohne daß man ihnen jedoch fürs Leben, für die Kunstanschauung
oder die Kunstübung auch nur die geringste Wichtigkeit beilegen könnte. Nur
glaube man nicht, daß alle kunstgeschichtlichen Streitfragen so rein akademischer
Natur seien. Die Frage z. B., ob Dresden oder Darmstadt die echte Madonna
Hans Holbeins besitzt, ist in mehr als in einer Beziehung von der tiefgreifendsten
praktischen Bedeutung. Daß die Streitfrage, ob einige in verschiedenen Städten
Italiens im ersten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts gemalte Wandbilder
von der Hand des großen, bahnbrechenden Neuerers, den die Kunstgeschichte
unter den Namen Masaccio feiert, oder von dessen Lehrer Masolino herrühren,
in irgend einer Hinsicht praktische Folgen haben könne, ist nun freilich durchaus
nicht zu behaupten. Sie mag ruhig zu den akademischen Fragen, deren Lösung
zunächst nur die Wissenschaft selbst interessirt, gerechnet, und sie muß daher auch
in der ruhigsten und leidenschaftslosesten Weise erörtert werden. Aber sie gehört
sicher zu denjenigen akademischen Streitfragen, denen die weitesten Kreise der
Kunstfreunde ihre Theilnahme nicht versagen werden, weil sie sich auf einen
Künstler bezieht, zu welchem Rafael und Michel Angelo als zu ihrem Meister
emporgeschaut haben, und auf Gemälde, in denen der Welt die Sonne einer
neuen Kunstauffassung aufgegangen ist.

Es sind drei Freskencyclen, die bei dieser Frage in Betracht kommen:
Zunächst die Deckengemälde des Chors der Collegiatkirche zu Castiglione


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[0328] liebste Kritik beinahe nichts mehr zur Abwehr des Ungeschmacks und der Bar¬ barei zu thun vermag, so darf man doch vielleicht noch hoffen, daß die pietät¬ volle Würdigung der Natur und künstlerischen Entwicklung eines Poeten einige Augen auf ihn lenken wird. Denn auch das ist eine Wahrheit, daß ein Poet Mode sein und nach seinem eigensten Werthe dennoch zahlreichen seiner Leser unbekannt bleiben kann. Masaccio und Masolino. Eine kunst geschichtliche Streitsrage. Karl Wo ermann. Von Zahlreicher vielleicht, als in den meisten anderen Wissenschaften, sind in der Kunstgeschichte die Streitfrage» rein akademischer Natur, bei denen es sich zwar für den Forscher um hochwichtige Principien, ja um seine ganze Methode handeln kann, ohne daß man ihnen jedoch fürs Leben, für die Kunstanschauung oder die Kunstübung auch nur die geringste Wichtigkeit beilegen könnte. Nur glaube man nicht, daß alle kunstgeschichtlichen Streitfragen so rein akademischer Natur seien. Die Frage z. B., ob Dresden oder Darmstadt die echte Madonna Hans Holbeins besitzt, ist in mehr als in einer Beziehung von der tiefgreifendsten praktischen Bedeutung. Daß die Streitfrage, ob einige in verschiedenen Städten Italiens im ersten Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts gemalte Wandbilder von der Hand des großen, bahnbrechenden Neuerers, den die Kunstgeschichte unter den Namen Masaccio feiert, oder von dessen Lehrer Masolino herrühren, in irgend einer Hinsicht praktische Folgen haben könne, ist nun freilich durchaus nicht zu behaupten. Sie mag ruhig zu den akademischen Fragen, deren Lösung zunächst nur die Wissenschaft selbst interessirt, gerechnet, und sie muß daher auch in der ruhigsten und leidenschaftslosesten Weise erörtert werden. Aber sie gehört sicher zu denjenigen akademischen Streitfragen, denen die weitesten Kreise der Kunstfreunde ihre Theilnahme nicht versagen werden, weil sie sich auf einen Künstler bezieht, zu welchem Rafael und Michel Angelo als zu ihrem Meister emporgeschaut haben, und auf Gemälde, in denen der Welt die Sonne einer neuen Kunstauffassung aufgegangen ist. Es sind drei Freskencyclen, die bei dieser Frage in Betracht kommen: Zunächst die Deckengemälde des Chors der Collegiatkirche zu Castiglione

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/328>, abgerufen am 22.07.2024.