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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Lebenswendungen und Situationen, in welche Storms Charaktere verstrickt
werden, entspringen zumeist, beinahe ausschließlich, aus dieser Quelle. Und hier
bietet sich denn freilich für einen Dichter von der Eigenart des unsrigen eine
schier unerschöpfliche Fülle von Darstellungsmöglichkeiten. Der Gegensatz zwi¬
schen dem pflichtmäßigen Sein und dem ruhigen Comfort des Alltags und einer
überwältigend starken leidenschaftlichen Empfindung, die im Innern seiner Men¬
schen lebt und einmal schicksalbringend hervorbricht, geht in immer neuen und
immer gleich wirksamen Gestalten durch eine große Reihe Stormscher Novellen
hindurch. Ja eine Anzahl seiner Meisterstücke, in denen der Dichter am besten,
geschlossensten und fortreißendsten erzählt, behandeln diesen Gegensatz bewußt
in seiner segnenden oder vernichtenden Wirkung. Da treffen wir denn auf
so eigenthümliche Gebilde wie die Novelle "Späte Rosen", in denen der Gegen¬
satz der äußerlich gebundenen zur innerlich gelösten Welt in beinahe beängsti¬
gender Weise in die Geschichte einer und derselben Ehe hineingetragen ist --
der Held, ein Kaufherr, lebt jahrelang mit und neben einer schönen und edlen
Frau und erkennt erst als es beinahe zu spät ist, welch ein tieferes, wärmeres,
seligeres Glück er an ihrem Herzen und in ihren Armen zu finden vermochte.
Hierher gehören die Novellen "Von Jenseit des Meeres" mit der Prachtgestalt
der warmherzigen heimatlosen Jenni, hierher "Pole Poppenspäler", welche die
glücklichsten Wirkungen einer ergriffenen Phantasie und einer aus dieser erwach¬
senden Lebensentscheidung vergegenwärtigt, hierher "In Se. Jürgen" und die
Novelle "Psyche". Hierher aber auch tragische Erzählungen wie die "Wald¬
winkel" überschriebene, in ihrer Wiedergabe eines zu späten Glückverlangens und
eines demselben entstammenden verhängnißvollen Wagnisses von höchster psycho¬
logischer Kraft, von sinnlicher Fülle und leuchtender Schönheit, ferner "Viola
Tricolor" und jene beiden Novellen, welche die unseligen Nachwirkungen der
erweckten und unbefriedigt bleibenden Sehnsucht nach einem anderen Leben dar¬
stellen, "Auf der Universität" und "Carsten Curator". Hier ist überall eine
Fülle unmittelbarer, eigenthümlicher Details, aus denen die Hauptgestalt, auf
die es dem Dichter ankommt, frei, sicher und deutlich heraustritt. Auch in den
minder hochstehenden Novellen unseres Dichters finden sich überall Belege zum
Obengesagten, und während seiner Zeit Johann Heinrich Voß vor allem die
bürgerliche Tüchtigkeit, die Wohlmeinung und das genießende Lebensbehagen
dieser norddeutschen Welt getreulich dargestellt, lenkt Theodor Storm (ohne daß
ihm die Neigung zur Idylle fremd wäre) unseren Blick tiefer und bringt die
ganze Mannigfaltigkeit sie bewegender und durchdringender Gefühle und Leiden¬
schaften zu Tage.

Wer die Summe von Charakteren und Gestalten, von Lebensschicksalen und
Lebensstimmungen überschaut die von Storm poetisch dargestellt und verklärt


Lebenswendungen und Situationen, in welche Storms Charaktere verstrickt
werden, entspringen zumeist, beinahe ausschließlich, aus dieser Quelle. Und hier
bietet sich denn freilich für einen Dichter von der Eigenart des unsrigen eine
schier unerschöpfliche Fülle von Darstellungsmöglichkeiten. Der Gegensatz zwi¬
schen dem pflichtmäßigen Sein und dem ruhigen Comfort des Alltags und einer
überwältigend starken leidenschaftlichen Empfindung, die im Innern seiner Men¬
schen lebt und einmal schicksalbringend hervorbricht, geht in immer neuen und
immer gleich wirksamen Gestalten durch eine große Reihe Stormscher Novellen
hindurch. Ja eine Anzahl seiner Meisterstücke, in denen der Dichter am besten,
geschlossensten und fortreißendsten erzählt, behandeln diesen Gegensatz bewußt
in seiner segnenden oder vernichtenden Wirkung. Da treffen wir denn auf
so eigenthümliche Gebilde wie die Novelle „Späte Rosen", in denen der Gegen¬
satz der äußerlich gebundenen zur innerlich gelösten Welt in beinahe beängsti¬
gender Weise in die Geschichte einer und derselben Ehe hineingetragen ist —
der Held, ein Kaufherr, lebt jahrelang mit und neben einer schönen und edlen
Frau und erkennt erst als es beinahe zu spät ist, welch ein tieferes, wärmeres,
seligeres Glück er an ihrem Herzen und in ihren Armen zu finden vermochte.
Hierher gehören die Novellen „Von Jenseit des Meeres" mit der Prachtgestalt
der warmherzigen heimatlosen Jenni, hierher „Pole Poppenspäler", welche die
glücklichsten Wirkungen einer ergriffenen Phantasie und einer aus dieser erwach¬
senden Lebensentscheidung vergegenwärtigt, hierher „In Se. Jürgen" und die
Novelle „Psyche". Hierher aber auch tragische Erzählungen wie die „Wald¬
winkel" überschriebene, in ihrer Wiedergabe eines zu späten Glückverlangens und
eines demselben entstammenden verhängnißvollen Wagnisses von höchster psycho¬
logischer Kraft, von sinnlicher Fülle und leuchtender Schönheit, ferner „Viola
Tricolor" und jene beiden Novellen, welche die unseligen Nachwirkungen der
erweckten und unbefriedigt bleibenden Sehnsucht nach einem anderen Leben dar¬
stellen, „Auf der Universität" und „Carsten Curator". Hier ist überall eine
Fülle unmittelbarer, eigenthümlicher Details, aus denen die Hauptgestalt, auf
die es dem Dichter ankommt, frei, sicher und deutlich heraustritt. Auch in den
minder hochstehenden Novellen unseres Dichters finden sich überall Belege zum
Obengesagten, und während seiner Zeit Johann Heinrich Voß vor allem die
bürgerliche Tüchtigkeit, die Wohlmeinung und das genießende Lebensbehagen
dieser norddeutschen Welt getreulich dargestellt, lenkt Theodor Storm (ohne daß
ihm die Neigung zur Idylle fremd wäre) unseren Blick tiefer und bringt die
ganze Mannigfaltigkeit sie bewegender und durchdringender Gefühle und Leiden¬
schaften zu Tage.

Wer die Summe von Charakteren und Gestalten, von Lebensschicksalen und
Lebensstimmungen überschaut die von Storm poetisch dargestellt und verklärt


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[0326] Lebenswendungen und Situationen, in welche Storms Charaktere verstrickt werden, entspringen zumeist, beinahe ausschließlich, aus dieser Quelle. Und hier bietet sich denn freilich für einen Dichter von der Eigenart des unsrigen eine schier unerschöpfliche Fülle von Darstellungsmöglichkeiten. Der Gegensatz zwi¬ schen dem pflichtmäßigen Sein und dem ruhigen Comfort des Alltags und einer überwältigend starken leidenschaftlichen Empfindung, die im Innern seiner Men¬ schen lebt und einmal schicksalbringend hervorbricht, geht in immer neuen und immer gleich wirksamen Gestalten durch eine große Reihe Stormscher Novellen hindurch. Ja eine Anzahl seiner Meisterstücke, in denen der Dichter am besten, geschlossensten und fortreißendsten erzählt, behandeln diesen Gegensatz bewußt in seiner segnenden oder vernichtenden Wirkung. Da treffen wir denn auf so eigenthümliche Gebilde wie die Novelle „Späte Rosen", in denen der Gegen¬ satz der äußerlich gebundenen zur innerlich gelösten Welt in beinahe beängsti¬ gender Weise in die Geschichte einer und derselben Ehe hineingetragen ist — der Held, ein Kaufherr, lebt jahrelang mit und neben einer schönen und edlen Frau und erkennt erst als es beinahe zu spät ist, welch ein tieferes, wärmeres, seligeres Glück er an ihrem Herzen und in ihren Armen zu finden vermochte. Hierher gehören die Novellen „Von Jenseit des Meeres" mit der Prachtgestalt der warmherzigen heimatlosen Jenni, hierher „Pole Poppenspäler", welche die glücklichsten Wirkungen einer ergriffenen Phantasie und einer aus dieser erwach¬ senden Lebensentscheidung vergegenwärtigt, hierher „In Se. Jürgen" und die Novelle „Psyche". Hierher aber auch tragische Erzählungen wie die „Wald¬ winkel" überschriebene, in ihrer Wiedergabe eines zu späten Glückverlangens und eines demselben entstammenden verhängnißvollen Wagnisses von höchster psycho¬ logischer Kraft, von sinnlicher Fülle und leuchtender Schönheit, ferner „Viola Tricolor" und jene beiden Novellen, welche die unseligen Nachwirkungen der erweckten und unbefriedigt bleibenden Sehnsucht nach einem anderen Leben dar¬ stellen, „Auf der Universität" und „Carsten Curator". Hier ist überall eine Fülle unmittelbarer, eigenthümlicher Details, aus denen die Hauptgestalt, auf die es dem Dichter ankommt, frei, sicher und deutlich heraustritt. Auch in den minder hochstehenden Novellen unseres Dichters finden sich überall Belege zum Obengesagten, und während seiner Zeit Johann Heinrich Voß vor allem die bürgerliche Tüchtigkeit, die Wohlmeinung und das genießende Lebensbehagen dieser norddeutschen Welt getreulich dargestellt, lenkt Theodor Storm (ohne daß ihm die Neigung zur Idylle fremd wäre) unseren Blick tiefer und bringt die ganze Mannigfaltigkeit sie bewegender und durchdringender Gefühle und Leiden¬ schaften zu Tage. Wer die Summe von Charakteren und Gestalten, von Lebensschicksalen und Lebensstimmungen überschaut die von Storm poetisch dargestellt und verklärt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/326>, abgerufen am 22.07.2024.