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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Charakters und Erlebnisses in eine psychologische Studie verwandelt, die, so
fein sie immer sein mag, doch ein Gefühl der Unbefriedigung hinterläßt. Da
empfindet man wie viel Halbheit und Unwahrheit, wie viel Bitterkeit und
Kümmerniß sich hinter den gehaltenen, gebundenen, gewohnheitsmäßigen Lebens¬
formen, der steten Rücksicht auf Umgebung und Ueberlieferung verbergen mag.
Zu Zeiten meint man selbst den Einfluß der leblosen Dinge, zwischen denen
sie aufgewachsen sind, an Storms Charakteren zu verspüren; die Dielen, die
Böden und Stuben in den alten Familienhäusern, die Thüren mit den schweren,
blanken, messingenen Klinker, der dunkle Hausrath und die halb verblaßten
Bilder aus Großväter- und Urgroßväterzeit, im Haus des Armen irgend ein kost¬
bareres Erbstück, alles gewinnt in dieser Welt leicht eine tiefergehende Bedeutung.
Ein romanischer Kritiker konnte, weil das norddeutsche Gemüth in der That
tief und zäh auch an den äußeren Dingen haftet, die von der Erinnerung ge¬
heiligt find, feinen Volksgenossen gelegentlich die Meinung auftischen, daß die
festlich heiteren Zimmer, in denen der Theekessel "wie es sein muß, auf durch¬
geglühten Torfkohlen" summt, die Hauptsache dieser Novellen seien, wie die
Decorationen bei einem neuesten Ausstattungsstück.

Doch so wunderbar und scheinbar unlöslich mit dem Boden ihrer Ueber¬
lieferung und Gewohnheit die Charaktere verwachsen sind, welche Storni darzu¬
stellen liebt, alle diese Menschen sind andererseits starke, bis zum Trotz selb¬
ständige, ihres eigensten und innersten Lebensrechtes vollbewnßte Individualitäten.
In diesen nüchternen, verständig prüfenden und wägenden, in hergebrachter
Ordnung hinlebenden Naturen waltet geheim eine starke Phantasie, eine ent¬
schlossene Sehnsucht sich ein Stück Leben nach ihres Herzens Wunsch zu ge¬
winnen. Sie alle sind bereit, unter Umständen in den schroffsten Conflict, ja
in das unversöhnbarste Zerwürfniß mit allen Gewohnheiten zu treten, sobald
sie sich im Innersten ergriffen fühlen. Sie haben wenig Neigung sich in den
Dingen des täglichen Lebens ihrer Einbildungskraft zu überlassen oder ihre
Wünsche über das Herkömmliche hinauszutreiben. Aber irgend einmal in ent¬
scheidenden Momenten kommt es über sie, werden sie der Gluth und zugleich
der Kraft ihres Herzens inne, einmal müssen sie dem Zuge ihrer Empfindung
folgen, der ihnen sagt, daß sie frei sind und sich in der Hauptsache das Leben
selbst zu schaffen haben. Eben unter diesen Meuschen hat die starke und tiefe
Liebesleidenschaft, hat die Treue einer nach außen unscheinbaren Neigung Raum --
wir stehen auf den Küstenboden, dem in altersgrauen Tagen das Lied von
Gudrun entstammt ist. Unter der Arbeit und dem Behagen des Alltags birgt
sich da und dort, und viel häufiger als der äußerliche Betrachter ahnt, ein bren¬
nender Durst nach Schönheit, nach einem tieferen Glück, ein heiliger Zorn gegen
die gemeine Klugheit, die keinen hohen Einsatz wagen mag. Die tragischen


Grenzboten II. 1880.

Charakters und Erlebnisses in eine psychologische Studie verwandelt, die, so
fein sie immer sein mag, doch ein Gefühl der Unbefriedigung hinterläßt. Da
empfindet man wie viel Halbheit und Unwahrheit, wie viel Bitterkeit und
Kümmerniß sich hinter den gehaltenen, gebundenen, gewohnheitsmäßigen Lebens¬
formen, der steten Rücksicht auf Umgebung und Ueberlieferung verbergen mag.
Zu Zeiten meint man selbst den Einfluß der leblosen Dinge, zwischen denen
sie aufgewachsen sind, an Storms Charakteren zu verspüren; die Dielen, die
Böden und Stuben in den alten Familienhäusern, die Thüren mit den schweren,
blanken, messingenen Klinker, der dunkle Hausrath und die halb verblaßten
Bilder aus Großväter- und Urgroßväterzeit, im Haus des Armen irgend ein kost¬
bareres Erbstück, alles gewinnt in dieser Welt leicht eine tiefergehende Bedeutung.
Ein romanischer Kritiker konnte, weil das norddeutsche Gemüth in der That
tief und zäh auch an den äußeren Dingen haftet, die von der Erinnerung ge¬
heiligt find, feinen Volksgenossen gelegentlich die Meinung auftischen, daß die
festlich heiteren Zimmer, in denen der Theekessel „wie es sein muß, auf durch¬
geglühten Torfkohlen" summt, die Hauptsache dieser Novellen seien, wie die
Decorationen bei einem neuesten Ausstattungsstück.

Doch so wunderbar und scheinbar unlöslich mit dem Boden ihrer Ueber¬
lieferung und Gewohnheit die Charaktere verwachsen sind, welche Storni darzu¬
stellen liebt, alle diese Menschen sind andererseits starke, bis zum Trotz selb¬
ständige, ihres eigensten und innersten Lebensrechtes vollbewnßte Individualitäten.
In diesen nüchternen, verständig prüfenden und wägenden, in hergebrachter
Ordnung hinlebenden Naturen waltet geheim eine starke Phantasie, eine ent¬
schlossene Sehnsucht sich ein Stück Leben nach ihres Herzens Wunsch zu ge¬
winnen. Sie alle sind bereit, unter Umständen in den schroffsten Conflict, ja
in das unversöhnbarste Zerwürfniß mit allen Gewohnheiten zu treten, sobald
sie sich im Innersten ergriffen fühlen. Sie haben wenig Neigung sich in den
Dingen des täglichen Lebens ihrer Einbildungskraft zu überlassen oder ihre
Wünsche über das Herkömmliche hinauszutreiben. Aber irgend einmal in ent¬
scheidenden Momenten kommt es über sie, werden sie der Gluth und zugleich
der Kraft ihres Herzens inne, einmal müssen sie dem Zuge ihrer Empfindung
folgen, der ihnen sagt, daß sie frei sind und sich in der Hauptsache das Leben
selbst zu schaffen haben. Eben unter diesen Meuschen hat die starke und tiefe
Liebesleidenschaft, hat die Treue einer nach außen unscheinbaren Neigung Raum —
wir stehen auf den Küstenboden, dem in altersgrauen Tagen das Lied von
Gudrun entstammt ist. Unter der Arbeit und dem Behagen des Alltags birgt
sich da und dort, und viel häufiger als der äußerliche Betrachter ahnt, ein bren¬
nender Durst nach Schönheit, nach einem tieferen Glück, ein heiliger Zorn gegen
die gemeine Klugheit, die keinen hohen Einsatz wagen mag. Die tragischen


Grenzboten II. 1880.
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[0325] Charakters und Erlebnisses in eine psychologische Studie verwandelt, die, so fein sie immer sein mag, doch ein Gefühl der Unbefriedigung hinterläßt. Da empfindet man wie viel Halbheit und Unwahrheit, wie viel Bitterkeit und Kümmerniß sich hinter den gehaltenen, gebundenen, gewohnheitsmäßigen Lebens¬ formen, der steten Rücksicht auf Umgebung und Ueberlieferung verbergen mag. Zu Zeiten meint man selbst den Einfluß der leblosen Dinge, zwischen denen sie aufgewachsen sind, an Storms Charakteren zu verspüren; die Dielen, die Böden und Stuben in den alten Familienhäusern, die Thüren mit den schweren, blanken, messingenen Klinker, der dunkle Hausrath und die halb verblaßten Bilder aus Großväter- und Urgroßväterzeit, im Haus des Armen irgend ein kost¬ bareres Erbstück, alles gewinnt in dieser Welt leicht eine tiefergehende Bedeutung. Ein romanischer Kritiker konnte, weil das norddeutsche Gemüth in der That tief und zäh auch an den äußeren Dingen haftet, die von der Erinnerung ge¬ heiligt find, feinen Volksgenossen gelegentlich die Meinung auftischen, daß die festlich heiteren Zimmer, in denen der Theekessel „wie es sein muß, auf durch¬ geglühten Torfkohlen" summt, die Hauptsache dieser Novellen seien, wie die Decorationen bei einem neuesten Ausstattungsstück. Doch so wunderbar und scheinbar unlöslich mit dem Boden ihrer Ueber¬ lieferung und Gewohnheit die Charaktere verwachsen sind, welche Storni darzu¬ stellen liebt, alle diese Menschen sind andererseits starke, bis zum Trotz selb¬ ständige, ihres eigensten und innersten Lebensrechtes vollbewnßte Individualitäten. In diesen nüchternen, verständig prüfenden und wägenden, in hergebrachter Ordnung hinlebenden Naturen waltet geheim eine starke Phantasie, eine ent¬ schlossene Sehnsucht sich ein Stück Leben nach ihres Herzens Wunsch zu ge¬ winnen. Sie alle sind bereit, unter Umständen in den schroffsten Conflict, ja in das unversöhnbarste Zerwürfniß mit allen Gewohnheiten zu treten, sobald sie sich im Innersten ergriffen fühlen. Sie haben wenig Neigung sich in den Dingen des täglichen Lebens ihrer Einbildungskraft zu überlassen oder ihre Wünsche über das Herkömmliche hinauszutreiben. Aber irgend einmal in ent¬ scheidenden Momenten kommt es über sie, werden sie der Gluth und zugleich der Kraft ihres Herzens inne, einmal müssen sie dem Zuge ihrer Empfindung folgen, der ihnen sagt, daß sie frei sind und sich in der Hauptsache das Leben selbst zu schaffen haben. Eben unter diesen Meuschen hat die starke und tiefe Liebesleidenschaft, hat die Treue einer nach außen unscheinbaren Neigung Raum — wir stehen auf den Küstenboden, dem in altersgrauen Tagen das Lied von Gudrun entstammt ist. Unter der Arbeit und dem Behagen des Alltags birgt sich da und dort, und viel häufiger als der äußerliche Betrachter ahnt, ein bren¬ nender Durst nach Schönheit, nach einem tieferen Glück, ein heiliger Zorn gegen die gemeine Klugheit, die keinen hohen Einsatz wagen mag. Die tragischen Grenzboten II. 1880.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/325>, abgerufen am 25.08.2024.