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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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frischt und zu ihrem Genuß zurückkehrt, so oft mag er sich auch an die oben
erwähnten kleinen, einfachen aber tief stimmungsvollen und künstlerisch vollen¬
deten Bilder erinnert fühlen, die ihn zu Zeiten mit ihrem geheimen Reiz erfaßt
haben. Die warme Belebung des Verborgenen, Weitabliegenden und Unschein¬
baren wird, wo sie gelingt (was viel seltener der Fall ist, als gewisse Aesthetiker
glauben), in aller Kunst einen verwandten und einen gleich tiefgehenden Eindruck
hervorrufen. Und zuletzt ist eine Vergleichung mit Ruysdael ein Compliment,
das kein noch so vorzüglicher Dichter zurückzuweisen braucht und das kurz und
Prägnant ausdrücken soll, welche nachhaltigen, vom platten Sinn nicht geahnten
Wirkungen Tausende von Lesern den Dichtungen Theodor Storms verdanken.
Denn der fchleswigfche Lyriker und Novellist ist, obschon er "es nicht nöthig
hätte" und wahrlich auf nichts weniger ausgegangen ist als auf Sensation,
eine der seltenen schöpferischen Naturen, die zu gleicher Zeit nur sich und ihrem
Poetischen Drange genügen und doch beliebte, ja in gewissem Sinne Modeschrift¬
steller geworden sind.

Für die gerechte Beurtheilung eines Dichters der Gegenwart ist von diesem
Umstände so ziemlich abzusehen. Wir gehören weder zu den Pessimisten, die
von vornherein annehmen, daß nur das innerlich Werthlose und völlig Hohle die
Theilnahme des heutigen Publikums gewinnen könne, noch zu jenen Optimisten,
die des Glaubens leben, daß das deutsche Volk allem wirklich Vorzüglichen von
vornherein die wärmste Theilnahme entgegenbringe. Wir wissen, daß Gottfried
Kellers Prachtbuch "Die Leute von Seldwyla" ein Vierteljahrhundert oder
wenigstens zwanzig Jahre gebraucht hat, um über einen engsten Kreis empfäng¬
licher Leser hinaufzubringen, wir vergessen jedoch andererseits die Thatsache nicht,
daß Scheffels "Mehard" und Storms Novellen sich rasch Tausende von Lesern
eroberten. Die geheimsten Gründe des Erfolgs oder Nichterfolgs literarischer
Productionen, die oft tief liegend und wunderlich complicirt sind, sind in den
seltensten Fällen ganz klar aufzuhellen, wir dürfen in unserem Falle darauf
Verzicht leisten. Gewiß ist, daß es nicht seine tiefsten und eigenartigsten Vorzüge
sind, welche einem Poeten und Erzähler zunächst seine Popularität verschaffen.
Ließe sich scheiden, was die Leser an den Darbietungen eines Dichters zuerst
anzieht und woran sie sich allmählich gewöhnen, was ihnen unbewußt lieb wird,
so möchte sich zeigen, daß die Schwächen, die conventionellen Elemente früher
Erfolg haben, als die stärksten und besten Seiten. Schließlich wirkt doch die
ganze volle Erscheinung eines Dichters; das Wählen und Kosten aus seinen
Gestalten und Situationen muß einem ehrlichen und lebendigen Mitempfinden
und einem Verständniß für den eigentlichen Kern der poetischen Natur, einer
allmählichen Vertrautheit mit der Welt weichen, die der Poet vorzugsweise und
mit Glück schildert.


frischt und zu ihrem Genuß zurückkehrt, so oft mag er sich auch an die oben
erwähnten kleinen, einfachen aber tief stimmungsvollen und künstlerisch vollen¬
deten Bilder erinnert fühlen, die ihn zu Zeiten mit ihrem geheimen Reiz erfaßt
haben. Die warme Belebung des Verborgenen, Weitabliegenden und Unschein¬
baren wird, wo sie gelingt (was viel seltener der Fall ist, als gewisse Aesthetiker
glauben), in aller Kunst einen verwandten und einen gleich tiefgehenden Eindruck
hervorrufen. Und zuletzt ist eine Vergleichung mit Ruysdael ein Compliment,
das kein noch so vorzüglicher Dichter zurückzuweisen braucht und das kurz und
Prägnant ausdrücken soll, welche nachhaltigen, vom platten Sinn nicht geahnten
Wirkungen Tausende von Lesern den Dichtungen Theodor Storms verdanken.
Denn der fchleswigfche Lyriker und Novellist ist, obschon er „es nicht nöthig
hätte" und wahrlich auf nichts weniger ausgegangen ist als auf Sensation,
eine der seltenen schöpferischen Naturen, die zu gleicher Zeit nur sich und ihrem
Poetischen Drange genügen und doch beliebte, ja in gewissem Sinne Modeschrift¬
steller geworden sind.

Für die gerechte Beurtheilung eines Dichters der Gegenwart ist von diesem
Umstände so ziemlich abzusehen. Wir gehören weder zu den Pessimisten, die
von vornherein annehmen, daß nur das innerlich Werthlose und völlig Hohle die
Theilnahme des heutigen Publikums gewinnen könne, noch zu jenen Optimisten,
die des Glaubens leben, daß das deutsche Volk allem wirklich Vorzüglichen von
vornherein die wärmste Theilnahme entgegenbringe. Wir wissen, daß Gottfried
Kellers Prachtbuch „Die Leute von Seldwyla" ein Vierteljahrhundert oder
wenigstens zwanzig Jahre gebraucht hat, um über einen engsten Kreis empfäng¬
licher Leser hinaufzubringen, wir vergessen jedoch andererseits die Thatsache nicht,
daß Scheffels „Mehard" und Storms Novellen sich rasch Tausende von Lesern
eroberten. Die geheimsten Gründe des Erfolgs oder Nichterfolgs literarischer
Productionen, die oft tief liegend und wunderlich complicirt sind, sind in den
seltensten Fällen ganz klar aufzuhellen, wir dürfen in unserem Falle darauf
Verzicht leisten. Gewiß ist, daß es nicht seine tiefsten und eigenartigsten Vorzüge
sind, welche einem Poeten und Erzähler zunächst seine Popularität verschaffen.
Ließe sich scheiden, was die Leser an den Darbietungen eines Dichters zuerst
anzieht und woran sie sich allmählich gewöhnen, was ihnen unbewußt lieb wird,
so möchte sich zeigen, daß die Schwächen, die conventionellen Elemente früher
Erfolg haben, als die stärksten und besten Seiten. Schließlich wirkt doch die
ganze volle Erscheinung eines Dichters; das Wählen und Kosten aus seinen
Gestalten und Situationen muß einem ehrlichen und lebendigen Mitempfinden
und einem Verständniß für den eigentlichen Kern der poetischen Natur, einer
allmählichen Vertrautheit mit der Welt weichen, die der Poet vorzugsweise und
mit Glück schildert.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/319>, abgerufen am 03.07.2024.