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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Nichts von alledem hat sich ereignet. Die Belgier haben bewiesen, daß
sie einen gesunden politischen Verstand, ein maßvolles Wesen und einen vor¬
sichtigen Sinn besitzen, den man nur bewundern kann, wenn man den Stand
der Dinge zu damaliger Zeit mit dem vergleicht, den sie jetzt darbieten. Die
Ordnung, um die man so lebhafte Besorgnisse hegte, ist bei keiner Gelegenheit
ernstlich gestört worden. Die Aera der Revolutionen ist für Belgien vorüber.
Im Jahre 1848, als Europa in seinen Grundvesten zu erbeben schien, blieb
Belgien ruhig, obwohl es an Frankreich grenzte und französische Republikaner,
mit Flinten bewaffnet, den Versuch unternahmen, in sein Gebiet einzudringen,
um hier Propaganda zu machen. Sie wurden mit Kanonenschüssen empfangen.
Am 23. Februar, als das Pariser Volk sich auf den Ruf: "Es lebe die Reform!"
erhob, ergriff die Regierung in Brüssel aus eigener Initiative verschiedene Ma߬
regeln zur Abwendung des Sturmes, der das Land bedrohte.

Belgien ist den Einrichtungen treu geblieben, die es sich in der Zeit Patrioti¬
scher Begeisterung gab. Die Verfassung von 1831 ist noch heute intact, sie hat
nicht die geringste Veränderung erfahren. Nur selten hat man Conflicte zwi¬
schen den verfassungsmäßigen Gewalten zu verzeichnen gehabt. Der Senat und
die zweite Kammer haben in dieser Beziehung niemals im Streit mit einander
gelegen. Die Provinz und die Gemeinde erfreuten sich in Belgien stets einer
sehr deutlich ausgesprochenen Selbstregierung; aber bei keiner Gelegenheit haben
sie ihre Befugnisse im Gegensatze gegen die Regierung des Staates mißbräuch¬
lich ausgeübt. Die Nationalitätsfrage, die man für die bedrohlichste Wolke
hielt, welche den Horizont verdunkelte, hat sich nicht einmal über denselben er¬
hoben. Die, welche überzeugt waren, daß Belgien sich nothgedrungen in zwei
nationale Lager spalten müsse, haben sich mit ihren Voraussagungen unbedingt
getäuscht. Der alte Rassenhaß ist verschwunden, obwohl die Vläminger größten-
theils der katholischen und die wallonischen Provinzen mehr der liberalen Partei
angehören. Man hat auf beiden Seiten sorgfältig vermieden, den Nationali¬
tätenstreit auf das politische Gebiet zu übertragen. Die Vläminger und die
Wallonen sind Brüder geworden, und die vortrefflichen Beziehungen, in denen sie
mit einander leben, werden in kurzen Worten von dem nationalen Dichter Antonine
Clesse dahin bezeichnet, daß "Vläminger und Wallonen Vornamen sind, während
Belgier unser Familienname ist." Die nationale Einheit Belgiens ist fest be-'
gründet. Man könnte die Vläminger nicht mehr von den Wallonen trennen;
der Widerstand gegen die, welche eine Scheidung versuchen wollten, würde ein
einmüthiger sein. Das Land hat sich das schöne Motto gewählt: "Einigkeit
macht stark", und das ist nicht bloß ein Glück für Belgien, sondern eine der
werthvollsten Bürgschaften des europäischen Friedens.

In der auswärtigen Politik hat Belgien eine solche Haltung zu bewahren


Nichts von alledem hat sich ereignet. Die Belgier haben bewiesen, daß
sie einen gesunden politischen Verstand, ein maßvolles Wesen und einen vor¬
sichtigen Sinn besitzen, den man nur bewundern kann, wenn man den Stand
der Dinge zu damaliger Zeit mit dem vergleicht, den sie jetzt darbieten. Die
Ordnung, um die man so lebhafte Besorgnisse hegte, ist bei keiner Gelegenheit
ernstlich gestört worden. Die Aera der Revolutionen ist für Belgien vorüber.
Im Jahre 1848, als Europa in seinen Grundvesten zu erbeben schien, blieb
Belgien ruhig, obwohl es an Frankreich grenzte und französische Republikaner,
mit Flinten bewaffnet, den Versuch unternahmen, in sein Gebiet einzudringen,
um hier Propaganda zu machen. Sie wurden mit Kanonenschüssen empfangen.
Am 23. Februar, als das Pariser Volk sich auf den Ruf: „Es lebe die Reform!"
erhob, ergriff die Regierung in Brüssel aus eigener Initiative verschiedene Ma߬
regeln zur Abwendung des Sturmes, der das Land bedrohte.

Belgien ist den Einrichtungen treu geblieben, die es sich in der Zeit Patrioti¬
scher Begeisterung gab. Die Verfassung von 1831 ist noch heute intact, sie hat
nicht die geringste Veränderung erfahren. Nur selten hat man Conflicte zwi¬
schen den verfassungsmäßigen Gewalten zu verzeichnen gehabt. Der Senat und
die zweite Kammer haben in dieser Beziehung niemals im Streit mit einander
gelegen. Die Provinz und die Gemeinde erfreuten sich in Belgien stets einer
sehr deutlich ausgesprochenen Selbstregierung; aber bei keiner Gelegenheit haben
sie ihre Befugnisse im Gegensatze gegen die Regierung des Staates mißbräuch¬
lich ausgeübt. Die Nationalitätsfrage, die man für die bedrohlichste Wolke
hielt, welche den Horizont verdunkelte, hat sich nicht einmal über denselben er¬
hoben. Die, welche überzeugt waren, daß Belgien sich nothgedrungen in zwei
nationale Lager spalten müsse, haben sich mit ihren Voraussagungen unbedingt
getäuscht. Der alte Rassenhaß ist verschwunden, obwohl die Vläminger größten-
theils der katholischen und die wallonischen Provinzen mehr der liberalen Partei
angehören. Man hat auf beiden Seiten sorgfältig vermieden, den Nationali¬
tätenstreit auf das politische Gebiet zu übertragen. Die Vläminger und die
Wallonen sind Brüder geworden, und die vortrefflichen Beziehungen, in denen sie
mit einander leben, werden in kurzen Worten von dem nationalen Dichter Antonine
Clesse dahin bezeichnet, daß „Vläminger und Wallonen Vornamen sind, während
Belgier unser Familienname ist." Die nationale Einheit Belgiens ist fest be-'
gründet. Man könnte die Vläminger nicht mehr von den Wallonen trennen;
der Widerstand gegen die, welche eine Scheidung versuchen wollten, würde ein
einmüthiger sein. Das Land hat sich das schöne Motto gewählt: „Einigkeit
macht stark", und das ist nicht bloß ein Glück für Belgien, sondern eine der
werthvollsten Bürgschaften des europäischen Friedens.

In der auswärtigen Politik hat Belgien eine solche Haltung zu bewahren


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[0314] Nichts von alledem hat sich ereignet. Die Belgier haben bewiesen, daß sie einen gesunden politischen Verstand, ein maßvolles Wesen und einen vor¬ sichtigen Sinn besitzen, den man nur bewundern kann, wenn man den Stand der Dinge zu damaliger Zeit mit dem vergleicht, den sie jetzt darbieten. Die Ordnung, um die man so lebhafte Besorgnisse hegte, ist bei keiner Gelegenheit ernstlich gestört worden. Die Aera der Revolutionen ist für Belgien vorüber. Im Jahre 1848, als Europa in seinen Grundvesten zu erbeben schien, blieb Belgien ruhig, obwohl es an Frankreich grenzte und französische Republikaner, mit Flinten bewaffnet, den Versuch unternahmen, in sein Gebiet einzudringen, um hier Propaganda zu machen. Sie wurden mit Kanonenschüssen empfangen. Am 23. Februar, als das Pariser Volk sich auf den Ruf: „Es lebe die Reform!" erhob, ergriff die Regierung in Brüssel aus eigener Initiative verschiedene Ma߬ regeln zur Abwendung des Sturmes, der das Land bedrohte. Belgien ist den Einrichtungen treu geblieben, die es sich in der Zeit Patrioti¬ scher Begeisterung gab. Die Verfassung von 1831 ist noch heute intact, sie hat nicht die geringste Veränderung erfahren. Nur selten hat man Conflicte zwi¬ schen den verfassungsmäßigen Gewalten zu verzeichnen gehabt. Der Senat und die zweite Kammer haben in dieser Beziehung niemals im Streit mit einander gelegen. Die Provinz und die Gemeinde erfreuten sich in Belgien stets einer sehr deutlich ausgesprochenen Selbstregierung; aber bei keiner Gelegenheit haben sie ihre Befugnisse im Gegensatze gegen die Regierung des Staates mißbräuch¬ lich ausgeübt. Die Nationalitätsfrage, die man für die bedrohlichste Wolke hielt, welche den Horizont verdunkelte, hat sich nicht einmal über denselben er¬ hoben. Die, welche überzeugt waren, daß Belgien sich nothgedrungen in zwei nationale Lager spalten müsse, haben sich mit ihren Voraussagungen unbedingt getäuscht. Der alte Rassenhaß ist verschwunden, obwohl die Vläminger größten- theils der katholischen und die wallonischen Provinzen mehr der liberalen Partei angehören. Man hat auf beiden Seiten sorgfältig vermieden, den Nationali¬ tätenstreit auf das politische Gebiet zu übertragen. Die Vläminger und die Wallonen sind Brüder geworden, und die vortrefflichen Beziehungen, in denen sie mit einander leben, werden in kurzen Worten von dem nationalen Dichter Antonine Clesse dahin bezeichnet, daß „Vläminger und Wallonen Vornamen sind, während Belgier unser Familienname ist." Die nationale Einheit Belgiens ist fest be-' gründet. Man könnte die Vläminger nicht mehr von den Wallonen trennen; der Widerstand gegen die, welche eine Scheidung versuchen wollten, würde ein einmüthiger sein. Das Land hat sich das schöne Motto gewählt: „Einigkeit macht stark", und das ist nicht bloß ein Glück für Belgien, sondern eine der werthvollsten Bürgschaften des europäischen Friedens. In der auswärtigen Politik hat Belgien eine solche Haltung zu bewahren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/314>, abgerufen am 22.07.2024.