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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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verstanden, daß die guten Beziehungen desselben zu anderen Mächten niemals
gestört worden sind. Es hat sich ein internationales Verhältniß herausgebildet,
um das mehr als eine Nation dasselbe beneiden könnte. Man kann den Bel¬
giern in keiner Weise den Vorwurf machen, die Pflichten der Neutralität ver¬
kannt zu haben, die ihnen als Bedingungen ihrer Existenz als Staat auferlegt
sind. Sie haben sich mit ebensoviel Klugheit als Entschlossenheit gegen alle
Versuche zu wehren gewußt, die von Seiten des französischen Kaiserreichs unter¬
nommen wurden, sie in eine Bahn zu drängen, welche ihren wahren Interessen
widersprechen würde. Sie begriffen, daß ihre Neutralität für die Ruhe Europas
bis jetzt ganz ebenso nothwendig war wie ihre Unabhängigkeit, und dieses Ge¬
fühl ist vielleicht der Reserve nicht fremd, mit welcher ihre Staatsmänner die
Vorschläge einer Defensiv-Allianz mit Holland aufnahmen.

Die Zeit hat die Rivalität verwischt, welche zwischen den beiden ehemaligen
Parteien der Niederlande existirte. Die sogenannten Septemberfeste, welche
Belgien jedes Jahr in Erinnerung an die Revolution von 1830 feiert, haben
jeden Zug von Feindseligkeit gegen Holland verloren. Es besteht in den beiden
Ländern eine fortwährend an Breite zunehmende Strömung zu Gunsten einer
aufrichtigen Versöhnung. Als vor kurzem ein höherer Offizier der Armee nieder-
ländisch-Jndiens in einer Versammlung im Haag den Wunsch nach Abschluß
eines militärischen Bündnisses zwischen den beiden Staaten aussprach, erinnerte
man ihn sofort daran, daß die Neutralität Belgiens jede Allianz dieser Art
verbietet. Es scheint, daß man auf der einen wie auf der anderen Seite den
aufrichtigen Wunsch hegt, die Bande eines brüderlichen Einvernehmens zu be¬
wahren, aber es hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich, daß die Belgier freiwillig
die Wohlthaten einer ausnahmsweise günstigen Stellung aufgeben sollten, die
ihnen fünfzig Jahre hindurch jede fremde Invasion von den Grenzen fernge¬
halten hat. Sicherlich werden sie auf keinen Fall, wenn die Frage zur bren¬
nenden werden sollte, eine derartige Allianz anders abschließen, als mit Zustim¬
mung der Großmächte und nachdem sie von Europa dieselbe wohlwollende Be¬
rücksichtigung des zu schaffenden neuen Standes der Dinge erlangt haben, dessen
sich der bisherige erfreute.

Statt sich in Vläminger und Wallonen zu trennen, haben die Belgier sich
.in Liberale und Katholiken geschieden. 1830 ließen sich die rührigsten und
intelligentesten Geistlichen von den Ideen der Neuzeit leiten. Es war die Epoche,
wo Lacordaire und Lamennais und ebenso Montalembert das Bündniß der Kirche
mit dem Fortschritt und den Principien von 1789 predigten. Das Wort dieser
"katholischen Reformatoren" fand in Belgien starken Widerhall. Es gab ein
Dutzend Abbas im Congreß, und fast alle stimmten für die Republik. In Folge
dessen verständigten sich Liberale und Katholiken mehrere Jahre hindurch sehr


verstanden, daß die guten Beziehungen desselben zu anderen Mächten niemals
gestört worden sind. Es hat sich ein internationales Verhältniß herausgebildet,
um das mehr als eine Nation dasselbe beneiden könnte. Man kann den Bel¬
giern in keiner Weise den Vorwurf machen, die Pflichten der Neutralität ver¬
kannt zu haben, die ihnen als Bedingungen ihrer Existenz als Staat auferlegt
sind. Sie haben sich mit ebensoviel Klugheit als Entschlossenheit gegen alle
Versuche zu wehren gewußt, die von Seiten des französischen Kaiserreichs unter¬
nommen wurden, sie in eine Bahn zu drängen, welche ihren wahren Interessen
widersprechen würde. Sie begriffen, daß ihre Neutralität für die Ruhe Europas
bis jetzt ganz ebenso nothwendig war wie ihre Unabhängigkeit, und dieses Ge¬
fühl ist vielleicht der Reserve nicht fremd, mit welcher ihre Staatsmänner die
Vorschläge einer Defensiv-Allianz mit Holland aufnahmen.

Die Zeit hat die Rivalität verwischt, welche zwischen den beiden ehemaligen
Parteien der Niederlande existirte. Die sogenannten Septemberfeste, welche
Belgien jedes Jahr in Erinnerung an die Revolution von 1830 feiert, haben
jeden Zug von Feindseligkeit gegen Holland verloren. Es besteht in den beiden
Ländern eine fortwährend an Breite zunehmende Strömung zu Gunsten einer
aufrichtigen Versöhnung. Als vor kurzem ein höherer Offizier der Armee nieder-
ländisch-Jndiens in einer Versammlung im Haag den Wunsch nach Abschluß
eines militärischen Bündnisses zwischen den beiden Staaten aussprach, erinnerte
man ihn sofort daran, daß die Neutralität Belgiens jede Allianz dieser Art
verbietet. Es scheint, daß man auf der einen wie auf der anderen Seite den
aufrichtigen Wunsch hegt, die Bande eines brüderlichen Einvernehmens zu be¬
wahren, aber es hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich, daß die Belgier freiwillig
die Wohlthaten einer ausnahmsweise günstigen Stellung aufgeben sollten, die
ihnen fünfzig Jahre hindurch jede fremde Invasion von den Grenzen fernge¬
halten hat. Sicherlich werden sie auf keinen Fall, wenn die Frage zur bren¬
nenden werden sollte, eine derartige Allianz anders abschließen, als mit Zustim¬
mung der Großmächte und nachdem sie von Europa dieselbe wohlwollende Be¬
rücksichtigung des zu schaffenden neuen Standes der Dinge erlangt haben, dessen
sich der bisherige erfreute.

Statt sich in Vläminger und Wallonen zu trennen, haben die Belgier sich
.in Liberale und Katholiken geschieden. 1830 ließen sich die rührigsten und
intelligentesten Geistlichen von den Ideen der Neuzeit leiten. Es war die Epoche,
wo Lacordaire und Lamennais und ebenso Montalembert das Bündniß der Kirche
mit dem Fortschritt und den Principien von 1789 predigten. Das Wort dieser
„katholischen Reformatoren" fand in Belgien starken Widerhall. Es gab ein
Dutzend Abbas im Congreß, und fast alle stimmten für die Republik. In Folge
dessen verständigten sich Liberale und Katholiken mehrere Jahre hindurch sehr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/315>, abgerufen am 22.07.2024.