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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Endlich schrieb man Wahlen zu einem constituirenden Congresse aus, und
diese Versammlung löste mit kühnem Beschluß die ernste Frage der Zukunft des
Landes. Die Stimmen, welche den Anschluß an Frankreich predigten, wurden
zum Verstummen genöthigt, und andererseits wies man die Idee einer Rückkehr
zu Holland zurück. Die Verhandlungen wurden durch eine Rede zum Schlüsse
gebracht, in welcher der vor kurzem verstorbene Paul Devaux sich in energischen
Worten an die "nationale Ehre" wendete. "Wenn sich nach Jahrhunderten,"
sagte er, "einem Volke die Gelegenheit bietet, Besitz von seiner Unabhängigkeit
zu ergreifen, so würde es Mangel an Muth und Würde und Edelsinn sein,
wenn es nicht den Versuch machte." Am 18. November 1830 faßten die
Mitglieder des Congresses einstimmig eine Resolution, die folgendermaßen lau¬
tete: "Der Nationalcongreß proclamirt die Unabhängigkeit des belgischen Volkes."
Man constituirte sich, gegen de Potters Anträge, die auf eine Republik abzielten,
als verfassungsmäßig beschränkte Monarchie, und die Krone wurde dem Prinzen
Leopold von Sachsen-Koburg angeboten, der sie annahm. Derselbe erhielt darauf
von einem französischen Staatsmanne folgenden Brief:

"Sie werden also, mein Prinz, über ein Volk herrschen, welches kein Vater¬
land besitzt, in einem Lande, wo jede Stadt ihr besonderes Interesse und eine
verschiedene Fahne hat. Sie werden ein Volk regieren, dessen politische Intelli¬
genz sich nie über das Regime der Gemeinde zu erheben verstanden hat. Ver¬
gebens würden Sie, mein Prinz, versuchen, aus diesem Volke ein harmonisches
Ganze zu gestalten. Sie werden niemals dahin gelangen, daß aus Belgien ein
nationaler Staat wird. Die Belgier werden bleiben, was sie sind, und niemals
die Physiognomie einer eigenen und dicht zusammengeschlossenen Nation haben.
Sie scheinen Bruchstücke von Völkern zu sein, die nach Deutschland, Frankreich,
England und Holland hin gravitiren. Welches Staatswesen läßt sich auf ein
solches Volk gründen!"

Seit diesen Ereignissen sind fünfzig Jahre verflossen. -- Ist Belgien gestorben,
hat es sich selbst das Leben genommen? Die düsteren Voraussagungen, welche
an seiner Wiege laut wurden, haben sie sich verwirklicht? Haben die Vläminger
sich mit den Wallonen entzweit? Ist Belgien in Europa ein Element der Zwie¬
tracht gewesen? Ist das Land in Folge von Mangel an Absatz zu Grunde
gegangen, oder ist es eine Beute der Demagogie geworden?


geschleppt oder zu ihrem Privatvortheile gestohlen. Während des harten Winters von 1794
verwandelte sich die hierdurch entstandene Theuerung in Hungersnoth. In einem so frucht¬
baren Lande wie Belgien kämpften die Einwohner täglich vor den Thüren der Bäcker um
ein Brot. Um ein vollständiges Bild von den Gewaltthätigkeiten, der lächerlichen Prahlerei
und den zügellosen Plünderungen der Franzosen in jener trüben Zeit zu geben, müßte man
ganze Bücher schreiben." Hendrik Consciences Geschichte von Belgien. Deutsche Übersetzung
von O. L. B. Wolff. 2. Aufl. S, 411 ff.

Endlich schrieb man Wahlen zu einem constituirenden Congresse aus, und
diese Versammlung löste mit kühnem Beschluß die ernste Frage der Zukunft des
Landes. Die Stimmen, welche den Anschluß an Frankreich predigten, wurden
zum Verstummen genöthigt, und andererseits wies man die Idee einer Rückkehr
zu Holland zurück. Die Verhandlungen wurden durch eine Rede zum Schlüsse
gebracht, in welcher der vor kurzem verstorbene Paul Devaux sich in energischen
Worten an die „nationale Ehre" wendete. „Wenn sich nach Jahrhunderten,"
sagte er, „einem Volke die Gelegenheit bietet, Besitz von seiner Unabhängigkeit
zu ergreifen, so würde es Mangel an Muth und Würde und Edelsinn sein,
wenn es nicht den Versuch machte." Am 18. November 1830 faßten die
Mitglieder des Congresses einstimmig eine Resolution, die folgendermaßen lau¬
tete: „Der Nationalcongreß proclamirt die Unabhängigkeit des belgischen Volkes."
Man constituirte sich, gegen de Potters Anträge, die auf eine Republik abzielten,
als verfassungsmäßig beschränkte Monarchie, und die Krone wurde dem Prinzen
Leopold von Sachsen-Koburg angeboten, der sie annahm. Derselbe erhielt darauf
von einem französischen Staatsmanne folgenden Brief:

„Sie werden also, mein Prinz, über ein Volk herrschen, welches kein Vater¬
land besitzt, in einem Lande, wo jede Stadt ihr besonderes Interesse und eine
verschiedene Fahne hat. Sie werden ein Volk regieren, dessen politische Intelli¬
genz sich nie über das Regime der Gemeinde zu erheben verstanden hat. Ver¬
gebens würden Sie, mein Prinz, versuchen, aus diesem Volke ein harmonisches
Ganze zu gestalten. Sie werden niemals dahin gelangen, daß aus Belgien ein
nationaler Staat wird. Die Belgier werden bleiben, was sie sind, und niemals
die Physiognomie einer eigenen und dicht zusammengeschlossenen Nation haben.
Sie scheinen Bruchstücke von Völkern zu sein, die nach Deutschland, Frankreich,
England und Holland hin gravitiren. Welches Staatswesen läßt sich auf ein
solches Volk gründen!"

Seit diesen Ereignissen sind fünfzig Jahre verflossen. — Ist Belgien gestorben,
hat es sich selbst das Leben genommen? Die düsteren Voraussagungen, welche
an seiner Wiege laut wurden, haben sie sich verwirklicht? Haben die Vläminger
sich mit den Wallonen entzweit? Ist Belgien in Europa ein Element der Zwie¬
tracht gewesen? Ist das Land in Folge von Mangel an Absatz zu Grunde
gegangen, oder ist es eine Beute der Demagogie geworden?


geschleppt oder zu ihrem Privatvortheile gestohlen. Während des harten Winters von 1794
verwandelte sich die hierdurch entstandene Theuerung in Hungersnoth. In einem so frucht¬
baren Lande wie Belgien kämpften die Einwohner täglich vor den Thüren der Bäcker um
ein Brot. Um ein vollständiges Bild von den Gewaltthätigkeiten, der lächerlichen Prahlerei
und den zügellosen Plünderungen der Franzosen in jener trüben Zeit zu geben, müßte man
ganze Bücher schreiben." Hendrik Consciences Geschichte von Belgien. Deutsche Übersetzung
von O. L. B. Wolff. 2. Aufl. S, 411 ff.
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[0313] Endlich schrieb man Wahlen zu einem constituirenden Congresse aus, und diese Versammlung löste mit kühnem Beschluß die ernste Frage der Zukunft des Landes. Die Stimmen, welche den Anschluß an Frankreich predigten, wurden zum Verstummen genöthigt, und andererseits wies man die Idee einer Rückkehr zu Holland zurück. Die Verhandlungen wurden durch eine Rede zum Schlüsse gebracht, in welcher der vor kurzem verstorbene Paul Devaux sich in energischen Worten an die „nationale Ehre" wendete. „Wenn sich nach Jahrhunderten," sagte er, „einem Volke die Gelegenheit bietet, Besitz von seiner Unabhängigkeit zu ergreifen, so würde es Mangel an Muth und Würde und Edelsinn sein, wenn es nicht den Versuch machte." Am 18. November 1830 faßten die Mitglieder des Congresses einstimmig eine Resolution, die folgendermaßen lau¬ tete: „Der Nationalcongreß proclamirt die Unabhängigkeit des belgischen Volkes." Man constituirte sich, gegen de Potters Anträge, die auf eine Republik abzielten, als verfassungsmäßig beschränkte Monarchie, und die Krone wurde dem Prinzen Leopold von Sachsen-Koburg angeboten, der sie annahm. Derselbe erhielt darauf von einem französischen Staatsmanne folgenden Brief: „Sie werden also, mein Prinz, über ein Volk herrschen, welches kein Vater¬ land besitzt, in einem Lande, wo jede Stadt ihr besonderes Interesse und eine verschiedene Fahne hat. Sie werden ein Volk regieren, dessen politische Intelli¬ genz sich nie über das Regime der Gemeinde zu erheben verstanden hat. Ver¬ gebens würden Sie, mein Prinz, versuchen, aus diesem Volke ein harmonisches Ganze zu gestalten. Sie werden niemals dahin gelangen, daß aus Belgien ein nationaler Staat wird. Die Belgier werden bleiben, was sie sind, und niemals die Physiognomie einer eigenen und dicht zusammengeschlossenen Nation haben. Sie scheinen Bruchstücke von Völkern zu sein, die nach Deutschland, Frankreich, England und Holland hin gravitiren. Welches Staatswesen läßt sich auf ein solches Volk gründen!" Seit diesen Ereignissen sind fünfzig Jahre verflossen. — Ist Belgien gestorben, hat es sich selbst das Leben genommen? Die düsteren Voraussagungen, welche an seiner Wiege laut wurden, haben sie sich verwirklicht? Haben die Vläminger sich mit den Wallonen entzweit? Ist Belgien in Europa ein Element der Zwie¬ tracht gewesen? Ist das Land in Folge von Mangel an Absatz zu Grunde gegangen, oder ist es eine Beute der Demagogie geworden? geschleppt oder zu ihrem Privatvortheile gestohlen. Während des harten Winters von 1794 verwandelte sich die hierdurch entstandene Theuerung in Hungersnoth. In einem so frucht¬ baren Lande wie Belgien kämpften die Einwohner täglich vor den Thüren der Bäcker um ein Brot. Um ein vollständiges Bild von den Gewaltthätigkeiten, der lächerlichen Prahlerei und den zügellosen Plünderungen der Franzosen in jener trüben Zeit zu geben, müßte man ganze Bücher schreiben." Hendrik Consciences Geschichte von Belgien. Deutsche Übersetzung von O. L. B. Wolff. 2. Aufl. S, 411 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/313>, abgerufen am 24.08.2024.