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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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sein Brot einen bestimmten Theil des Jahres hindurch außerhalb seiner Heimat
und kehrt mit den Ersparnissen seines Verdienstes für den anderen Theil nach
Hause zurück. Der Boden seines Kantons ist, abgesehen von den breiteren
Flußthälern, steril und lohnt den Ackerbau wenig, und da, wo er eine reichere
Ausbeute zu versprechen scheint, zerstören oft die wilden Bergwässer den Segen
seiner Arbeit. Die Quelle dieser unheilbringenden Gießbäche zu verstopfen oder
wenigstens ihre verherende Wirkung einzuschränken, dazu gehört neben gutem
Willen und Einsicht vor allen Dingen Geld. Wenn aber auch die beiden ersteren
Factoren vorhanden wären, an letzterem gebricht es sicher. Nun bieten freilich
die ungeheueren Wasserkräfte des Cantons eine nahezu unentgeltliche Triebkraft
für industrielle Unternehmungen. Für diese hat aber der Tessiner leider keinen
Sinn. So kommt es, daß alljährlich eine große Anzahl Maurer und Stein¬
hauer im März über den Gotthard wandert, um sich in den größeren Städten
der ebenen Schweiz eine lohnende Beschäftigung zu suchen. Wenn die Schnee¬
schmelze beginnt und die ersten Lawinen donnernd den Frühling verkünden,
thuen sie sich in Karawanen zusammen und achten der Gefahren nicht, welche
die Reise mit sich bringt. In dünner, brauner Kleidung, jedoch mit einem
Regenschirm bewaffnet -- denn gegen Nässe sind sie empfindlicher als gegen
Kälte --, ziehen sie hinauf nach dem Gotthard, wo noch der Winter starrt,
um erst im Spätherbst nach der Heimat zurückzukehren. Dann machen sich die
Kastanienbrater auf, die den Winter über in der Fremde verweilen. Ueber die
zurückbleibenden Greise, Frauen und Kinder führt unterdeß der Pfarrer das
Regiment. Bemerkenswerth ist es, daß ganze Thäler in der Regel die gleichen
Berufszweige aufweisen. Die Kastanienbrater kommen natürlich aus solchen
Thälern, wo die Kastanie besonders reichlich gedeiht. In anderen Fällen aber
liegt ein solcher natürlicher Grund nicht immer vor, fondern der Zufall hat sich
als Wohlthäter erwiesen. Ein Angehöriger des Blegno-Thales z. B. machte
vor 200 Jahren in Mailand als Chocoladefabrikant sein Glück und erweckte
damit so starke Nacheiferung, daß noch jetzt viele Angehörige dieses Thales den
gleichen Erwerbszweig betreiben. Eine ähnliche Entstehung hat offenbar das
Gewerbe der Conditoren im Engadin.

Während die Bauhandwerker und Kastanienbrater ihre jährliche Wanderung
mit Vorliebe nach dem Norden richten, suchen dagegen die sxÄWaokMQi
(Kaminfeger) aus der Val Maggia, Verzasca und Jntragna den Süden auf.
Schon als Knaben verlassen sie ihr heimatliches Dorf, um ihre schlanken Leiber
durch die engen Kamine der lombardischen Städte zu zwängen- Das Schicksal
dieser an die Savoyardenknaben erinnernden Kinder ist vielfach ein sehr beklagens-
werthes und hat auch bereits die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen
und das allgemeine Mitleid in dem Maße erregt, daß eine sottosorl^loup


sein Brot einen bestimmten Theil des Jahres hindurch außerhalb seiner Heimat
und kehrt mit den Ersparnissen seines Verdienstes für den anderen Theil nach
Hause zurück. Der Boden seines Kantons ist, abgesehen von den breiteren
Flußthälern, steril und lohnt den Ackerbau wenig, und da, wo er eine reichere
Ausbeute zu versprechen scheint, zerstören oft die wilden Bergwässer den Segen
seiner Arbeit. Die Quelle dieser unheilbringenden Gießbäche zu verstopfen oder
wenigstens ihre verherende Wirkung einzuschränken, dazu gehört neben gutem
Willen und Einsicht vor allen Dingen Geld. Wenn aber auch die beiden ersteren
Factoren vorhanden wären, an letzterem gebricht es sicher. Nun bieten freilich
die ungeheueren Wasserkräfte des Cantons eine nahezu unentgeltliche Triebkraft
für industrielle Unternehmungen. Für diese hat aber der Tessiner leider keinen
Sinn. So kommt es, daß alljährlich eine große Anzahl Maurer und Stein¬
hauer im März über den Gotthard wandert, um sich in den größeren Städten
der ebenen Schweiz eine lohnende Beschäftigung zu suchen. Wenn die Schnee¬
schmelze beginnt und die ersten Lawinen donnernd den Frühling verkünden,
thuen sie sich in Karawanen zusammen und achten der Gefahren nicht, welche
die Reise mit sich bringt. In dünner, brauner Kleidung, jedoch mit einem
Regenschirm bewaffnet — denn gegen Nässe sind sie empfindlicher als gegen
Kälte —, ziehen sie hinauf nach dem Gotthard, wo noch der Winter starrt,
um erst im Spätherbst nach der Heimat zurückzukehren. Dann machen sich die
Kastanienbrater auf, die den Winter über in der Fremde verweilen. Ueber die
zurückbleibenden Greise, Frauen und Kinder führt unterdeß der Pfarrer das
Regiment. Bemerkenswerth ist es, daß ganze Thäler in der Regel die gleichen
Berufszweige aufweisen. Die Kastanienbrater kommen natürlich aus solchen
Thälern, wo die Kastanie besonders reichlich gedeiht. In anderen Fällen aber
liegt ein solcher natürlicher Grund nicht immer vor, fondern der Zufall hat sich
als Wohlthäter erwiesen. Ein Angehöriger des Blegno-Thales z. B. machte
vor 200 Jahren in Mailand als Chocoladefabrikant sein Glück und erweckte
damit so starke Nacheiferung, daß noch jetzt viele Angehörige dieses Thales den
gleichen Erwerbszweig betreiben. Eine ähnliche Entstehung hat offenbar das
Gewerbe der Conditoren im Engadin.

Während die Bauhandwerker und Kastanienbrater ihre jährliche Wanderung
mit Vorliebe nach dem Norden richten, suchen dagegen die sxÄWaokMQi
(Kaminfeger) aus der Val Maggia, Verzasca und Jntragna den Süden auf.
Schon als Knaben verlassen sie ihr heimatliches Dorf, um ihre schlanken Leiber
durch die engen Kamine der lombardischen Städte zu zwängen- Das Schicksal
dieser an die Savoyardenknaben erinnernden Kinder ist vielfach ein sehr beklagens-
werthes und hat auch bereits die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen
und das allgemeine Mitleid in dem Maße erregt, daß eine sottosorl^loup


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/294>, abgerufen am 03.07.2024.