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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Scharfrichter, der seinen Widersachern schon noch schließlich ans dem Markte
die Köpfe abschlagen werde.

Die Lobredner der guten alten Zeit werden aus diesem actenmäßigen Ge¬
schichtsbilde von neuem ersehen, daß wir doch ein gutes Theil Rohheit in den
letzten drei Jahrhunderten abgestreift haben, wenn auch die heißspornigen dog¬
matischen Kämpen von heute manche nur ins Grobe gezeichnete Züge der eigenen
Kampfesmethode wie in einem Hohlspiegel darin wieder finden dürften. Es ist
richtig, was Hase im Vorwort sagt: "Ohne Tendenz ist diese Geschichte ge¬
schrieben. Aber die Gegenwart kann immer von der Vergangenheit lernen."




Die Tessiner.

Von jeher war es das Schicksal der Bergvölker, bei steigender Vermehrung
ihrer Seelenzahl in eine Zwangslage zu gerathen. Denn wo nicht unter
besonders günstigen Verhältnissen eine Specialindustrie sich ausbildete, mußte
auch bei sorgsamster Ausnutzung der von der Natur gebotenen Hilfsmittel eine
Zeit eintreten, wo der Bodenanbau allein seine Bewohner zu ernähren sich außer
Stande zeigte. Um dem aus diesem Mißverhältniß sich ergebenden Uebelstande
zu begegnen, ergriff man verschiedene Mittel. Schwächliche Kinder setzte man,
wie es z. B. von Lacedaemon erzählt wird, aus und gab sie so lieber einem
sicheren Untergange Preis, als daß man sie mit vieler Mühe für eine ungewisse
Zukunft zu erhalten suchte. Diese selbstgewählte, gewissermaßen am eigenen
Fleische geübte Beschränkung des Nachwuchses mußte in einem menschlicherer
Zeitalter, das in der gehörigen Ausbeutung des eigenen Landes und in der
Aufsuchung neuer Wohnplätze Mittel an die Hand gab, um den Gefahren der
Übervölkerung zu entgehen, natürlich aufhören. Es begann die Auswanderung.
Je mehr aber die Erde sich mit Bewohnern füllte, um fo mehr wurde die An¬
wendung auch dieses Mittels erschwert, und je stärker die Liebe zur Heimat
war, um so weniger konnte das Mittel dauernder Auswanderung befriedigen.
An ihre Stelle setzte man daher die zeitweilige Auswanderung, einen Versuch zur
Lösung der wichtigen Frage, welcher mehr oder weniger in allen theilweise aus
Gebirgen bestehenden Ländern gemacht worden ist. Auch der Tessiner") sucht



") Vgl. den Aufsatz "Das Tessin" im 12, Hefte d. Bl., zu welchen der vorliegende
die Fortsetzung und Ergcinznng bildet,
Grenzboten II. 18S0, 37

Scharfrichter, der seinen Widersachern schon noch schließlich ans dem Markte
die Köpfe abschlagen werde.

Die Lobredner der guten alten Zeit werden aus diesem actenmäßigen Ge¬
schichtsbilde von neuem ersehen, daß wir doch ein gutes Theil Rohheit in den
letzten drei Jahrhunderten abgestreift haben, wenn auch die heißspornigen dog¬
matischen Kämpen von heute manche nur ins Grobe gezeichnete Züge der eigenen
Kampfesmethode wie in einem Hohlspiegel darin wieder finden dürften. Es ist
richtig, was Hase im Vorwort sagt: „Ohne Tendenz ist diese Geschichte ge¬
schrieben. Aber die Gegenwart kann immer von der Vergangenheit lernen."




Die Tessiner.

Von jeher war es das Schicksal der Bergvölker, bei steigender Vermehrung
ihrer Seelenzahl in eine Zwangslage zu gerathen. Denn wo nicht unter
besonders günstigen Verhältnissen eine Specialindustrie sich ausbildete, mußte
auch bei sorgsamster Ausnutzung der von der Natur gebotenen Hilfsmittel eine
Zeit eintreten, wo der Bodenanbau allein seine Bewohner zu ernähren sich außer
Stande zeigte. Um dem aus diesem Mißverhältniß sich ergebenden Uebelstande
zu begegnen, ergriff man verschiedene Mittel. Schwächliche Kinder setzte man,
wie es z. B. von Lacedaemon erzählt wird, aus und gab sie so lieber einem
sicheren Untergange Preis, als daß man sie mit vieler Mühe für eine ungewisse
Zukunft zu erhalten suchte. Diese selbstgewählte, gewissermaßen am eigenen
Fleische geübte Beschränkung des Nachwuchses mußte in einem menschlicherer
Zeitalter, das in der gehörigen Ausbeutung des eigenen Landes und in der
Aufsuchung neuer Wohnplätze Mittel an die Hand gab, um den Gefahren der
Übervölkerung zu entgehen, natürlich aufhören. Es begann die Auswanderung.
Je mehr aber die Erde sich mit Bewohnern füllte, um fo mehr wurde die An¬
wendung auch dieses Mittels erschwert, und je stärker die Liebe zur Heimat
war, um so weniger konnte das Mittel dauernder Auswanderung befriedigen.
An ihre Stelle setzte man daher die zeitweilige Auswanderung, einen Versuch zur
Lösung der wichtigen Frage, welcher mehr oder weniger in allen theilweise aus
Gebirgen bestehenden Ländern gemacht worden ist. Auch der Tessiner") sucht



") Vgl. den Aufsatz „Das Tessin" im 12, Hefte d. Bl., zu welchen der vorliegende
die Fortsetzung und Ergcinznng bildet,
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[0293] Scharfrichter, der seinen Widersachern schon noch schließlich ans dem Markte die Köpfe abschlagen werde. Die Lobredner der guten alten Zeit werden aus diesem actenmäßigen Ge¬ schichtsbilde von neuem ersehen, daß wir doch ein gutes Theil Rohheit in den letzten drei Jahrhunderten abgestreift haben, wenn auch die heißspornigen dog¬ matischen Kämpen von heute manche nur ins Grobe gezeichnete Züge der eigenen Kampfesmethode wie in einem Hohlspiegel darin wieder finden dürften. Es ist richtig, was Hase im Vorwort sagt: „Ohne Tendenz ist diese Geschichte ge¬ schrieben. Aber die Gegenwart kann immer von der Vergangenheit lernen." Die Tessiner. Von jeher war es das Schicksal der Bergvölker, bei steigender Vermehrung ihrer Seelenzahl in eine Zwangslage zu gerathen. Denn wo nicht unter besonders günstigen Verhältnissen eine Specialindustrie sich ausbildete, mußte auch bei sorgsamster Ausnutzung der von der Natur gebotenen Hilfsmittel eine Zeit eintreten, wo der Bodenanbau allein seine Bewohner zu ernähren sich außer Stande zeigte. Um dem aus diesem Mißverhältniß sich ergebenden Uebelstande zu begegnen, ergriff man verschiedene Mittel. Schwächliche Kinder setzte man, wie es z. B. von Lacedaemon erzählt wird, aus und gab sie so lieber einem sicheren Untergange Preis, als daß man sie mit vieler Mühe für eine ungewisse Zukunft zu erhalten suchte. Diese selbstgewählte, gewissermaßen am eigenen Fleische geübte Beschränkung des Nachwuchses mußte in einem menschlicherer Zeitalter, das in der gehörigen Ausbeutung des eigenen Landes und in der Aufsuchung neuer Wohnplätze Mittel an die Hand gab, um den Gefahren der Übervölkerung zu entgehen, natürlich aufhören. Es begann die Auswanderung. Je mehr aber die Erde sich mit Bewohnern füllte, um fo mehr wurde die An¬ wendung auch dieses Mittels erschwert, und je stärker die Liebe zur Heimat war, um so weniger konnte das Mittel dauernder Auswanderung befriedigen. An ihre Stelle setzte man daher die zeitweilige Auswanderung, einen Versuch zur Lösung der wichtigen Frage, welcher mehr oder weniger in allen theilweise aus Gebirgen bestehenden Ländern gemacht worden ist. Auch der Tessiner") sucht ") Vgl. den Aufsatz „Das Tessin" im 12, Hefte d. Bl., zu welchen der vorliegende die Fortsetzung und Ergcinznng bildet, Grenzboten II. 18S0, 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/293>, abgerufen am 22.07.2024.