Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.zogen auf dem Wittwensitz der Mutter, dem kleinen Gute Rüschhaus, eine Grenzbown II. 1880. S6
zogen auf dem Wittwensitz der Mutter, dem kleinen Gute Rüschhaus, eine Grenzbown II. 1880. S6
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0285" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146790"/> <p xml:id="ID_851" prev="#ID_850" next="#ID_852"> zogen auf dem Wittwensitz der Mutter, dem kleinen Gute Rüschhaus, eine<lb/> Stunde westlich von Münster gelegen. Die Einsamkeit des Lebens wurde noch<lb/> größer, als die ältere Schwester Jenny 1834 sich mit dem verdienten Germa¬<lb/> nisten, dem Reichsfreiherrn Joseph von Laßberg auf Eggishausen im Thurgau,<lb/> vermählte. Es gab Zeiten, wo Annette hier ganz allein lebte, wo einige Dienst¬<lb/> boten und ihre alte Amme ihre einzigen Hausgenossen waren. Diese Einsam¬<lb/> keit ist nicht ohne Einfluß auf ihre Gesammtrichtung geblieben, der grüblerische<lb/> Zug, der ihrer Natur an sich eigen war, das Nachsinnen über die Räthsel des<lb/> Lebens, wurde genährt, und wir begreifen es, daß, wie Levin Schücking erzählt,<lb/> die Realität ihres irdischen Seins sich mitunter dem Bewußtsein entzog und sie<lb/> schwankte, ob sie in der Zeit oder in der Ewigkeit weile. Doch fehlte es nicht<lb/> gänzlich an Unterbrechung des einförmigen Lebens. Besuche der Verwandten,<lb/> längerer Aufenthalt Annelees auf deren Gütern brachten manche Abwechslung.<lb/> Vor allem aber entwickelte sich ein reger Verkehr mit Münster, wo die Dichterin<lb/> in dem schon damals erblindeten Professor der Philosophie Christoph Schlüter<lb/> einen treuen Freund fand. Die Briefe Annelees an Schlüter zeigen uns, wie<lb/> nah und in geistigem Zusammenhange sie sich ihm vereint fühlte. Diese Freund¬<lb/> schaft bildete eine eigenthümliche Ergänzung ihrer Verbindung, mit Levin<lb/> Schücking. War es dort die Verwandtschaft der Naturen, die Gemeinsamkeit<lb/> literarischer und poetischer Interessen, welche die Freundschaft knüpfte, hier ruhte<lb/> sie auf dem Boden religiöser Ueberzeugung, auf der Uebereinstimmung des<lb/> Glaubens. Durch Vermittlung Schlüters wurde auch Professor Junkmann, eine<lb/> dichterisch angelegte Natur, mit Annette bekannt und ihr werth. Mit liebevoller<lb/> Theilnahme begleitete sie seine Entwicklung. So weit nicht die Freundschaft<lb/> ihre Zeit in Anspruch nahm, war dieselbe vor allem von musikalischer und<lb/> dichterischer Thätigkeit ausgefüllt. Auch für jene besaß sie eine hervorragende<lb/> Begabung. Besonders den Ton des Volksliedes vermochte ihr Vortrag zu treffen,<lb/> wie sie denn auch selbst Volks- und Minnelieder, Texte und Compositionen, zu<lb/> dichten und zu gestalten wußte. Später bewährte sich ihr musikalisches Talent<lb/> in gewaltigen, ergreifenden Improvisationen. Vor allem aber waren es die<lb/> Poetischen Erzählungen Annelees, die in dieser Zeit entstanden, und die zugleich<lb/> mit einigen lyrischen Gedichten 1838 von ihr veröffentlicht wurden. Ihre<lb/> Mutter hatte die Einwilligung dazu nicht gern gegeben. Daß ihre Tochter in<lb/> den Kreis der schriftstellernden Damen eintrat, damit möglicherweise in die lite¬<lb/> rarische Bewegung hineingezogen wurde, auf jeden Fall wohl öffentliche Be¬<lb/> urtheilung über sich ergehen lassen mußte, war ihr ein peinlicher Gedanke.<lb/> Annelees Gedichte erschienen denn auch nicht unter ihrem vollen Namen , nur<lb/> die Anfangsbuchstaben desselben wurden angegeben. Vorläufig ließ das Publikum<lb/> die Dichtungen völlig unbeachtet, die so wenig mit der Zeitstimmung correspon-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbown II. 1880. S6</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0285]
zogen auf dem Wittwensitz der Mutter, dem kleinen Gute Rüschhaus, eine
Stunde westlich von Münster gelegen. Die Einsamkeit des Lebens wurde noch
größer, als die ältere Schwester Jenny 1834 sich mit dem verdienten Germa¬
nisten, dem Reichsfreiherrn Joseph von Laßberg auf Eggishausen im Thurgau,
vermählte. Es gab Zeiten, wo Annette hier ganz allein lebte, wo einige Dienst¬
boten und ihre alte Amme ihre einzigen Hausgenossen waren. Diese Einsam¬
keit ist nicht ohne Einfluß auf ihre Gesammtrichtung geblieben, der grüblerische
Zug, der ihrer Natur an sich eigen war, das Nachsinnen über die Räthsel des
Lebens, wurde genährt, und wir begreifen es, daß, wie Levin Schücking erzählt,
die Realität ihres irdischen Seins sich mitunter dem Bewußtsein entzog und sie
schwankte, ob sie in der Zeit oder in der Ewigkeit weile. Doch fehlte es nicht
gänzlich an Unterbrechung des einförmigen Lebens. Besuche der Verwandten,
längerer Aufenthalt Annelees auf deren Gütern brachten manche Abwechslung.
Vor allem aber entwickelte sich ein reger Verkehr mit Münster, wo die Dichterin
in dem schon damals erblindeten Professor der Philosophie Christoph Schlüter
einen treuen Freund fand. Die Briefe Annelees an Schlüter zeigen uns, wie
nah und in geistigem Zusammenhange sie sich ihm vereint fühlte. Diese Freund¬
schaft bildete eine eigenthümliche Ergänzung ihrer Verbindung, mit Levin
Schücking. War es dort die Verwandtschaft der Naturen, die Gemeinsamkeit
literarischer und poetischer Interessen, welche die Freundschaft knüpfte, hier ruhte
sie auf dem Boden religiöser Ueberzeugung, auf der Uebereinstimmung des
Glaubens. Durch Vermittlung Schlüters wurde auch Professor Junkmann, eine
dichterisch angelegte Natur, mit Annette bekannt und ihr werth. Mit liebevoller
Theilnahme begleitete sie seine Entwicklung. So weit nicht die Freundschaft
ihre Zeit in Anspruch nahm, war dieselbe vor allem von musikalischer und
dichterischer Thätigkeit ausgefüllt. Auch für jene besaß sie eine hervorragende
Begabung. Besonders den Ton des Volksliedes vermochte ihr Vortrag zu treffen,
wie sie denn auch selbst Volks- und Minnelieder, Texte und Compositionen, zu
dichten und zu gestalten wußte. Später bewährte sich ihr musikalisches Talent
in gewaltigen, ergreifenden Improvisationen. Vor allem aber waren es die
Poetischen Erzählungen Annelees, die in dieser Zeit entstanden, und die zugleich
mit einigen lyrischen Gedichten 1838 von ihr veröffentlicht wurden. Ihre
Mutter hatte die Einwilligung dazu nicht gern gegeben. Daß ihre Tochter in
den Kreis der schriftstellernden Damen eintrat, damit möglicherweise in die lite¬
rarische Bewegung hineingezogen wurde, auf jeden Fall wohl öffentliche Be¬
urtheilung über sich ergehen lassen mußte, war ihr ein peinlicher Gedanke.
Annelees Gedichte erschienen denn auch nicht unter ihrem vollen Namen , nur
die Anfangsbuchstaben desselben wurden angegeben. Vorläufig ließ das Publikum
die Dichtungen völlig unbeachtet, die so wenig mit der Zeitstimmung correspon-
Grenzbown II. 1880. S6
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