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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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dirten. Auf der einen Seite nahm damals der Streit der preußischen Regie¬
rung mit den Erzbischöfen von Cöln und Gnesen die Gemüther in Anspruch, auf
der anderen wurden sie von den Ideen des jungen Deutschlands aufs tiefste
erregt. Kein Wunder, daß die Stimme einer Dichterin wirkungslos verhallte,
die, gleichsam zeitlos, von den Interessen des Augenblicks absehend, ausschlie߬
lich auf die bleibenden Erfahrungen des menschlichen Geistes und Herzens den
Blick richtete. Annette selbst wurde von diesem literarischen Mißgeschick wenig
berührt, nur daß sie sich die Frage vorlegte, ob sie nicht vielmehr zur lyrischen
Dichterin oder zur Prosa-Schriftstellerin berufen sei.

Wir würden ein unvollständiges Bild ihres Stilllebens in Rüschhaus geben,
wenn wir es unterließen, Annette schließlich auch im Kreise vou Neffen und
Nichten zu beobachten, wie sie, mütterlich waltend, bald unterrichtet, bald erzählt,
oder am offenen Fenster sitzend der gespannt lauschenden Dorfjugend Gelesenes
und Erdachtes aus der Sagen- und Märchenwelt mittheilt in plattdeutscher
Mundart, oder wie sie die Haide durchstreift, den Hammer in der Hand, im
Steinbruch zu klopfen und Reste der Urzeit zu erforschen.

Indessen verschlimmerte sich Annelees körperlicher Zustand. Die wenigen
Jahre, in denen sie das Vollgefühl der Gesundheit genossen hatte, waren schnell
vorübergegangen. Krankhafte Zustände traten ein; von nervösem Kopfweh,
rheumatischen und Gesichtsschmerzen hatte sie schwer zu leiden, asthmatische Be¬
schwerden und Bluthusten erregten Besorgniß. Doch brachte ein längerer Auf¬
enthalt bei ihrem Schwager im Jahre 1836 Besserung. 1841 erneuerte sie
denselben; Herr von Laßberg hatte inzwischen das uralte Schloß Meersburg
am Bodensee gekauft, das einst König Dagobert erbaut hatte. Hier war ein
rundes, etwas düsteres Thurmzimmer ihre Wohnstätte. Einsamkeit und Gesel¬
ligkeit glichen sich im Leben des Hauses wohlthuend aus. Manche anziehende,
manche bei aller Gelehrsamkeit recht langweilige Männer lernte sie kennen. Zu
ersteren zählen wir Uhland, Kerner, Schwab, Wessenberg, Reuchlin. Mit Uhland
und Reuchlin knüpften sich nähere Beziehungen. Vor allem aber verkehrte sie
viel mit Levin Schücking, der mit der Katalogisirung der Bibliothek ihres
Schwagers beauftragt war. In dieser Zeit erwachte in ihr das Bewußtsein
ihrer Begabung zu lyrischer Poesie, die meisten lyrischen Gedichte entstanden
im Winter 1841 zu 1842; 1844 erschien bei Cotta in Stuttgart ein Band
ihrer Gedichte unter ihrem vollen Namen. Er umfaßte die poetischen Erzäh¬
lungen und die lyrischen Gedichte. Ihr Gesundheitszustand wurde inzwischen
immer bedenklicher, sie mußte dauernd ihren Wohnsitz in der Meersburg nehmen;
da ihr der Arzt viel Bewegung geboten hatte, kaufte sie sich, um ein Ziel für
diese zu haben, einen Weingarten mit Pavillon in nächster Nähe. Der Besitz
dieses kleinen Tusculums machte ihr große Freude. Auch ihre Mutter siedelte


dirten. Auf der einen Seite nahm damals der Streit der preußischen Regie¬
rung mit den Erzbischöfen von Cöln und Gnesen die Gemüther in Anspruch, auf
der anderen wurden sie von den Ideen des jungen Deutschlands aufs tiefste
erregt. Kein Wunder, daß die Stimme einer Dichterin wirkungslos verhallte,
die, gleichsam zeitlos, von den Interessen des Augenblicks absehend, ausschlie߬
lich auf die bleibenden Erfahrungen des menschlichen Geistes und Herzens den
Blick richtete. Annette selbst wurde von diesem literarischen Mißgeschick wenig
berührt, nur daß sie sich die Frage vorlegte, ob sie nicht vielmehr zur lyrischen
Dichterin oder zur Prosa-Schriftstellerin berufen sei.

Wir würden ein unvollständiges Bild ihres Stilllebens in Rüschhaus geben,
wenn wir es unterließen, Annette schließlich auch im Kreise vou Neffen und
Nichten zu beobachten, wie sie, mütterlich waltend, bald unterrichtet, bald erzählt,
oder am offenen Fenster sitzend der gespannt lauschenden Dorfjugend Gelesenes
und Erdachtes aus der Sagen- und Märchenwelt mittheilt in plattdeutscher
Mundart, oder wie sie die Haide durchstreift, den Hammer in der Hand, im
Steinbruch zu klopfen und Reste der Urzeit zu erforschen.

Indessen verschlimmerte sich Annelees körperlicher Zustand. Die wenigen
Jahre, in denen sie das Vollgefühl der Gesundheit genossen hatte, waren schnell
vorübergegangen. Krankhafte Zustände traten ein; von nervösem Kopfweh,
rheumatischen und Gesichtsschmerzen hatte sie schwer zu leiden, asthmatische Be¬
schwerden und Bluthusten erregten Besorgniß. Doch brachte ein längerer Auf¬
enthalt bei ihrem Schwager im Jahre 1836 Besserung. 1841 erneuerte sie
denselben; Herr von Laßberg hatte inzwischen das uralte Schloß Meersburg
am Bodensee gekauft, das einst König Dagobert erbaut hatte. Hier war ein
rundes, etwas düsteres Thurmzimmer ihre Wohnstätte. Einsamkeit und Gesel¬
ligkeit glichen sich im Leben des Hauses wohlthuend aus. Manche anziehende,
manche bei aller Gelehrsamkeit recht langweilige Männer lernte sie kennen. Zu
ersteren zählen wir Uhland, Kerner, Schwab, Wessenberg, Reuchlin. Mit Uhland
und Reuchlin knüpften sich nähere Beziehungen. Vor allem aber verkehrte sie
viel mit Levin Schücking, der mit der Katalogisirung der Bibliothek ihres
Schwagers beauftragt war. In dieser Zeit erwachte in ihr das Bewußtsein
ihrer Begabung zu lyrischer Poesie, die meisten lyrischen Gedichte entstanden
im Winter 1841 zu 1842; 1844 erschien bei Cotta in Stuttgart ein Band
ihrer Gedichte unter ihrem vollen Namen. Er umfaßte die poetischen Erzäh¬
lungen und die lyrischen Gedichte. Ihr Gesundheitszustand wurde inzwischen
immer bedenklicher, sie mußte dauernd ihren Wohnsitz in der Meersburg nehmen;
da ihr der Arzt viel Bewegung geboten hatte, kaufte sie sich, um ein Ziel für
diese zu haben, einen Weingarten mit Pavillon in nächster Nähe. Der Besitz
dieses kleinen Tusculums machte ihr große Freude. Auch ihre Mutter siedelte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/286>, abgerufen am 22.07.2024.