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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Und rückwärts zog mir's den Schleier vom Haar,
Ach Gott, ich erglühte wie Flamme,
Als ich sah, daß die alte Nadel es war,
Meine rostige Nadel im Stamme I
Drauf hab' ich genommen ganz still in Schau
Die Inschrift zu eigenem Frommen,
Und fühlte dann plötzlich, es steige der Thau
Und werde mir schwerlich bekommen.
Ich will nicht klagen, mir blieb ein Hort,
Den rösten nicht Wetter und Wogen,
Allein für immer, für immer ist fort
Der Schleier vom Auge gezogen.

Noch öfter sind ihr später Huldigungen dargebracht worden, aber sie hat sich
ihnen immer entzogen.

Das Jahr 1826 brachte Annette schwere Verluste, den Tod ihres Vaters
und ihres besonders geliebten Bruders Ferdinand. Die tief erschütterte wurde
von einer ernsten Krankheit ergriffen und in lang anhaltende, tiefe Schwermuth
versenkt. Doch heilte sie von dieser eine auf Wunsch des Arztes erfolgte Orts¬
veränderung. Sie wählte zu ihrem Aufenthalte Coblenz, Cöln, Bonn, wohin
Freundschaft und Verwandtschaft sie zog. In Coblenz weilte sie bei Frau
von Thielmann, deren durch körperliche Leiden bedingtes Hellsehen das lebhaf¬
teste Interesse Annelees erregte. In Cöln fesselte sie das Haus ihres Onkels,
des Freiherrn Werner von Haxthausen, nach Bonn führte sie eine Einladung
ihres Vetters, des Professors der Jurisprudenz Clemens Freiherr von Droste.
Von besonderer Bedeutung für ihre Entwicklung war Bonn. Sie trat hier in
einen geistig angeregten Kreis und empfing eine Fülle bildender Eindrücke. Von
den verschiedensten Seiten wurde ihr eine sympathische Aufnahme zu Theil. Sie
erregte, wie eine Freundin erzählt, "einen wahren Enthusiasmus der Freund¬
schaft und Liebe, wo sie erschien, die erstere mit herzlicher Hingebung erwiedernd,
vor letzterer fliehend, wie ein Luftgeist vor irdischem Feuer". Diese Mittheilung
der Freundin betrifft ihren Aufenthalt in Cöln, wird aber auch wohl, wenig¬
stens zum Theil, auf Coblenz und Bonn bezogen werden dürfen. Ihre Ueber¬
siedlung von Cöln nach Bonn war eine auffallend plötzliche gewesen, und wir
ahnen den Grund, wenn wir hören, daß sie damals entschiedener als je ihre
Abneigung gegen eine Heirath aussprach. In Bonn lernte sie auch Adele
Schopenhauer, die treffliche und geistig bedeutende Schwester des Philosophen
kennen, mit der sie fortan eine dauernde Freundschaft verband. Vom Rhein
aus unternahm sie eine Reise nach Holland und Belgien und erweiterte so den
Kreis ihrer Anschauungen und Erfahrungen.

Nach der westfälischen Heimat zurückgekehrt, lebte Annette still und einge-


Und rückwärts zog mir's den Schleier vom Haar,
Ach Gott, ich erglühte wie Flamme,
Als ich sah, daß die alte Nadel es war,
Meine rostige Nadel im Stamme I
Drauf hab' ich genommen ganz still in Schau
Die Inschrift zu eigenem Frommen,
Und fühlte dann plötzlich, es steige der Thau
Und werde mir schwerlich bekommen.
Ich will nicht klagen, mir blieb ein Hort,
Den rösten nicht Wetter und Wogen,
Allein für immer, für immer ist fort
Der Schleier vom Auge gezogen.

Noch öfter sind ihr später Huldigungen dargebracht worden, aber sie hat sich
ihnen immer entzogen.

Das Jahr 1826 brachte Annette schwere Verluste, den Tod ihres Vaters
und ihres besonders geliebten Bruders Ferdinand. Die tief erschütterte wurde
von einer ernsten Krankheit ergriffen und in lang anhaltende, tiefe Schwermuth
versenkt. Doch heilte sie von dieser eine auf Wunsch des Arztes erfolgte Orts¬
veränderung. Sie wählte zu ihrem Aufenthalte Coblenz, Cöln, Bonn, wohin
Freundschaft und Verwandtschaft sie zog. In Coblenz weilte sie bei Frau
von Thielmann, deren durch körperliche Leiden bedingtes Hellsehen das lebhaf¬
teste Interesse Annelees erregte. In Cöln fesselte sie das Haus ihres Onkels,
des Freiherrn Werner von Haxthausen, nach Bonn führte sie eine Einladung
ihres Vetters, des Professors der Jurisprudenz Clemens Freiherr von Droste.
Von besonderer Bedeutung für ihre Entwicklung war Bonn. Sie trat hier in
einen geistig angeregten Kreis und empfing eine Fülle bildender Eindrücke. Von
den verschiedensten Seiten wurde ihr eine sympathische Aufnahme zu Theil. Sie
erregte, wie eine Freundin erzählt, „einen wahren Enthusiasmus der Freund¬
schaft und Liebe, wo sie erschien, die erstere mit herzlicher Hingebung erwiedernd,
vor letzterer fliehend, wie ein Luftgeist vor irdischem Feuer". Diese Mittheilung
der Freundin betrifft ihren Aufenthalt in Cöln, wird aber auch wohl, wenig¬
stens zum Theil, auf Coblenz und Bonn bezogen werden dürfen. Ihre Ueber¬
siedlung von Cöln nach Bonn war eine auffallend plötzliche gewesen, und wir
ahnen den Grund, wenn wir hören, daß sie damals entschiedener als je ihre
Abneigung gegen eine Heirath aussprach. In Bonn lernte sie auch Adele
Schopenhauer, die treffliche und geistig bedeutende Schwester des Philosophen
kennen, mit der sie fortan eine dauernde Freundschaft verband. Vom Rhein
aus unternahm sie eine Reise nach Holland und Belgien und erweiterte so den
Kreis ihrer Anschauungen und Erfahrungen.

Nach der westfälischen Heimat zurückgekehrt, lebte Annette still und einge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/284>, abgerufen am 03.07.2024.