Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Je spärlicher sie aber der Liebe gedenkt, desto größeren Raum widmet sie der
Freundschaft. Vielen edlen Männern und Frauen hat sie Dichtergrüße zuge¬
rufen, die am tiefsten empfundenen wohl Levin Schücking, ihrem jungen Freunde,
an dessen Entwicklung sie mit den Gefühlen einer älteren Schwester und mit
der Sympathie, die aus innerer Verwandtschaft hervorgeht, Theil genommen
hat. Seelen- und Geisteskräfte, die in ihr selbst gebunden waren, sah sie in ihm
sich entfalten.


So wenn ich schaue in dein Antlitz mild,
Wo tausend frische Lebenskeime walten,
Da ist es mir, als ob Natur mein Bild
Mir aus dem Zauberspiegel vorgehalten;
Und all mein Hoffen, meiner Seele Brand
Und meiner Liebessonne dämmernd Scheinen,
Was noch entschwinden wird und was entschwand,
Das muß ich alles dann in dir beweinen.

Sie erkennt in ihm "das tief versenkte Blut in meinem Herzen", er ist ihr
Dioskur, durch allerfrömmste Treue ihr verbunden.

Wir verzichten darauf, der Dichterin zu folgen, wenn sie die mannigfachen
Gestaltungen des menschlichen Lebens beleuchtet und dichterisch verklärt, wenn
sie in "Des alten Pfarrers Woche" die spärlichen poetischen Kohlen, die im Hause
des einsamen Priesters glühen, sorglich sammelt zu Hellem Feuer, oder wenn
sie in "Vanitas vanitg-tum" das Bild des alten Generals zeichnet, der, einst ein
Schrecken der Feinde und ein Stolz der Seinen, jetzt, ein kranker Löwe, zusam¬
menbricht; wir wollen ihr nicht folgen, wenn sie die wechselnden Geschicke und
Zustände des menschlichen Herzens entziffert und deutet. Nur die eine Frage
wollen wir zu beantworten suchen: Was ist die Grundstimmung der Dichterin
dem menschlichen Leben gegenüber? -- Es ist nicht schwer, die Antwort darauf
zu finden. So sehr Annette die lichten Blicke des Lebens aufzufangen und zu
fixiren weiß, in erster Linie ist es doch das Trübe und Dunkle, was sich in
ihrem Auge spiegelt. Und dies erscheint ihr nicht in seiner Zufälligkeit und


Bewunderns und Preisens nicht werth sei, da sie zu flüchtig, zu vergänglich, ja oft zu selbst¬
süchtig und verdienstlos sei, um über alles andere Schöne des Lebens erhoben zu werden;
anderes Edle und Schöne komme darüber zu kurz, werde mit beispielloser Parteilichkeit in
Schatten gestellt und wohl am Ende gar nicht gewürdigt, und die Poesie könne an ihm sich
einen ruhmvolleren und minder leicht zu erringenden Kranz erringen, als an der Liebe, die
alle Welt besinge. Mit großem Ernste, oft auch humoristisch scherzend, pflegte sie diesen
Punkt mit vorzüglicher Vorliebe ihren Bekannten auseinanderzusetzen, und sichtbar gefiel sie
sich in dieser Einsicht und gewählten Weise." Wir bemerken hierzu, daß, insofern in diesen
Worten eine Geringschätzung der Liebe als poetischen Themas liegt, wir in ihnen nur ein
objectives Verstandesurthcil der Dichterin erkennen können, durch welches sie einer entgegen¬
gesetzten Empfindung ihres Herzens, sie bekämpfend, entgegentrat. Die Richtigkeit dieser
Auffassung wird sich im Fortgange unserer Darstellung bewähren.
Grenzboten II. 1830. SS

Je spärlicher sie aber der Liebe gedenkt, desto größeren Raum widmet sie der
Freundschaft. Vielen edlen Männern und Frauen hat sie Dichtergrüße zuge¬
rufen, die am tiefsten empfundenen wohl Levin Schücking, ihrem jungen Freunde,
an dessen Entwicklung sie mit den Gefühlen einer älteren Schwester und mit
der Sympathie, die aus innerer Verwandtschaft hervorgeht, Theil genommen
hat. Seelen- und Geisteskräfte, die in ihr selbst gebunden waren, sah sie in ihm
sich entfalten.


So wenn ich schaue in dein Antlitz mild,
Wo tausend frische Lebenskeime walten,
Da ist es mir, als ob Natur mein Bild
Mir aus dem Zauberspiegel vorgehalten;
Und all mein Hoffen, meiner Seele Brand
Und meiner Liebessonne dämmernd Scheinen,
Was noch entschwinden wird und was entschwand,
Das muß ich alles dann in dir beweinen.

Sie erkennt in ihm „das tief versenkte Blut in meinem Herzen", er ist ihr
Dioskur, durch allerfrömmste Treue ihr verbunden.

Wir verzichten darauf, der Dichterin zu folgen, wenn sie die mannigfachen
Gestaltungen des menschlichen Lebens beleuchtet und dichterisch verklärt, wenn
sie in „Des alten Pfarrers Woche" die spärlichen poetischen Kohlen, die im Hause
des einsamen Priesters glühen, sorglich sammelt zu Hellem Feuer, oder wenn
sie in „Vanitas vanitg-tum" das Bild des alten Generals zeichnet, der, einst ein
Schrecken der Feinde und ein Stolz der Seinen, jetzt, ein kranker Löwe, zusam¬
menbricht; wir wollen ihr nicht folgen, wenn sie die wechselnden Geschicke und
Zustände des menschlichen Herzens entziffert und deutet. Nur die eine Frage
wollen wir zu beantworten suchen: Was ist die Grundstimmung der Dichterin
dem menschlichen Leben gegenüber? — Es ist nicht schwer, die Antwort darauf
zu finden. So sehr Annette die lichten Blicke des Lebens aufzufangen und zu
fixiren weiß, in erster Linie ist es doch das Trübe und Dunkle, was sich in
ihrem Auge spiegelt. Und dies erscheint ihr nicht in seiner Zufälligkeit und


Bewunderns und Preisens nicht werth sei, da sie zu flüchtig, zu vergänglich, ja oft zu selbst¬
süchtig und verdienstlos sei, um über alles andere Schöne des Lebens erhoben zu werden;
anderes Edle und Schöne komme darüber zu kurz, werde mit beispielloser Parteilichkeit in
Schatten gestellt und wohl am Ende gar nicht gewürdigt, und die Poesie könne an ihm sich
einen ruhmvolleren und minder leicht zu erringenden Kranz erringen, als an der Liebe, die
alle Welt besinge. Mit großem Ernste, oft auch humoristisch scherzend, pflegte sie diesen
Punkt mit vorzüglicher Vorliebe ihren Bekannten auseinanderzusetzen, und sichtbar gefiel sie
sich in dieser Einsicht und gewählten Weise." Wir bemerken hierzu, daß, insofern in diesen
Worten eine Geringschätzung der Liebe als poetischen Themas liegt, wir in ihnen nur ein
objectives Verstandesurthcil der Dichterin erkennen können, durch welches sie einer entgegen¬
gesetzten Empfindung ihres Herzens, sie bekämpfend, entgegentrat. Die Richtigkeit dieser
Auffassung wird sich im Fortgange unserer Darstellung bewähren.
Grenzboten II. 1830. SS
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0277" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146782"/>
          <p xml:id="ID_830" prev="#ID_829" next="#ID_831"> Je spärlicher sie aber der Liebe gedenkt, desto größeren Raum widmet sie der<lb/>
Freundschaft. Vielen edlen Männern und Frauen hat sie Dichtergrüße zuge¬<lb/>
rufen, die am tiefsten empfundenen wohl Levin Schücking, ihrem jungen Freunde,<lb/>
an dessen Entwicklung sie mit den Gefühlen einer älteren Schwester und mit<lb/>
der Sympathie, die aus innerer Verwandtschaft hervorgeht, Theil genommen<lb/>
hat. Seelen- und Geisteskräfte, die in ihr selbst gebunden waren, sah sie in ihm<lb/>
sich entfalten.</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_15" type="poem">
              <l> So wenn ich schaue in dein Antlitz mild,<lb/>
Wo tausend frische Lebenskeime walten,<lb/>
Da ist es mir, als ob Natur mein Bild<lb/>
Mir aus dem Zauberspiegel vorgehalten;<lb/>
Und all mein Hoffen, meiner Seele Brand<lb/>
Und meiner Liebessonne dämmernd Scheinen,<lb/>
Was noch entschwinden wird und was entschwand,<lb/>
Das muß ich alles dann in dir beweinen.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_831" prev="#ID_830"> Sie erkennt in ihm &#x201E;das tief versenkte Blut in meinem Herzen", er ist ihr<lb/>
Dioskur, durch allerfrömmste Treue ihr verbunden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_832" next="#ID_833"> Wir verzichten darauf, der Dichterin zu folgen, wenn sie die mannigfachen<lb/>
Gestaltungen des menschlichen Lebens beleuchtet und dichterisch verklärt, wenn<lb/>
sie in &#x201E;Des alten Pfarrers Woche" die spärlichen poetischen Kohlen, die im Hause<lb/>
des einsamen Priesters glühen, sorglich sammelt zu Hellem Feuer, oder wenn<lb/>
sie in &#x201E;Vanitas vanitg-tum" das Bild des alten Generals zeichnet, der, einst ein<lb/>
Schrecken der Feinde und ein Stolz der Seinen, jetzt, ein kranker Löwe, zusam¬<lb/>
menbricht; wir wollen ihr nicht folgen, wenn sie die wechselnden Geschicke und<lb/>
Zustände des menschlichen Herzens entziffert und deutet. Nur die eine Frage<lb/>
wollen wir zu beantworten suchen: Was ist die Grundstimmung der Dichterin<lb/>
dem menschlichen Leben gegenüber? &#x2014; Es ist nicht schwer, die Antwort darauf<lb/>
zu finden. So sehr Annette die lichten Blicke des Lebens aufzufangen und zu<lb/>
fixiren weiß, in erster Linie ist es doch das Trübe und Dunkle, was sich in<lb/>
ihrem Auge spiegelt. Und dies erscheint ihr nicht in seiner Zufälligkeit und</p><lb/>
          <note xml:id="FID_47" prev="#FID_46" place="foot"> Bewunderns und Preisens nicht werth sei, da sie zu flüchtig, zu vergänglich, ja oft zu selbst¬<lb/>
süchtig und verdienstlos sei, um über alles andere Schöne des Lebens erhoben zu werden;<lb/>
anderes Edle und Schöne komme darüber zu kurz, werde mit beispielloser Parteilichkeit in<lb/>
Schatten gestellt und wohl am Ende gar nicht gewürdigt, und die Poesie könne an ihm sich<lb/>
einen ruhmvolleren und minder leicht zu erringenden Kranz erringen, als an der Liebe, die<lb/>
alle Welt besinge. Mit großem Ernste, oft auch humoristisch scherzend, pflegte sie diesen<lb/>
Punkt mit vorzüglicher Vorliebe ihren Bekannten auseinanderzusetzen, und sichtbar gefiel sie<lb/>
sich in dieser Einsicht und gewählten Weise." Wir bemerken hierzu, daß, insofern in diesen<lb/>
Worten eine Geringschätzung der Liebe als poetischen Themas liegt, wir in ihnen nur ein<lb/>
objectives Verstandesurthcil der Dichterin erkennen können, durch welches sie einer entgegen¬<lb/>
gesetzten Empfindung ihres Herzens, sie bekämpfend, entgegentrat. Die Richtigkeit dieser<lb/>
Auffassung wird sich im Fortgange unserer Darstellung bewähren.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1830. SS</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0277] Je spärlicher sie aber der Liebe gedenkt, desto größeren Raum widmet sie der Freundschaft. Vielen edlen Männern und Frauen hat sie Dichtergrüße zuge¬ rufen, die am tiefsten empfundenen wohl Levin Schücking, ihrem jungen Freunde, an dessen Entwicklung sie mit den Gefühlen einer älteren Schwester und mit der Sympathie, die aus innerer Verwandtschaft hervorgeht, Theil genommen hat. Seelen- und Geisteskräfte, die in ihr selbst gebunden waren, sah sie in ihm sich entfalten. So wenn ich schaue in dein Antlitz mild, Wo tausend frische Lebenskeime walten, Da ist es mir, als ob Natur mein Bild Mir aus dem Zauberspiegel vorgehalten; Und all mein Hoffen, meiner Seele Brand Und meiner Liebessonne dämmernd Scheinen, Was noch entschwinden wird und was entschwand, Das muß ich alles dann in dir beweinen. Sie erkennt in ihm „das tief versenkte Blut in meinem Herzen", er ist ihr Dioskur, durch allerfrömmste Treue ihr verbunden. Wir verzichten darauf, der Dichterin zu folgen, wenn sie die mannigfachen Gestaltungen des menschlichen Lebens beleuchtet und dichterisch verklärt, wenn sie in „Des alten Pfarrers Woche" die spärlichen poetischen Kohlen, die im Hause des einsamen Priesters glühen, sorglich sammelt zu Hellem Feuer, oder wenn sie in „Vanitas vanitg-tum" das Bild des alten Generals zeichnet, der, einst ein Schrecken der Feinde und ein Stolz der Seinen, jetzt, ein kranker Löwe, zusam¬ menbricht; wir wollen ihr nicht folgen, wenn sie die wechselnden Geschicke und Zustände des menschlichen Herzens entziffert und deutet. Nur die eine Frage wollen wir zu beantworten suchen: Was ist die Grundstimmung der Dichterin dem menschlichen Leben gegenüber? — Es ist nicht schwer, die Antwort darauf zu finden. So sehr Annette die lichten Blicke des Lebens aufzufangen und zu fixiren weiß, in erster Linie ist es doch das Trübe und Dunkle, was sich in ihrem Auge spiegelt. Und dies erscheint ihr nicht in seiner Zufälligkeit und Bewunderns und Preisens nicht werth sei, da sie zu flüchtig, zu vergänglich, ja oft zu selbst¬ süchtig und verdienstlos sei, um über alles andere Schöne des Lebens erhoben zu werden; anderes Edle und Schöne komme darüber zu kurz, werde mit beispielloser Parteilichkeit in Schatten gestellt und wohl am Ende gar nicht gewürdigt, und die Poesie könne an ihm sich einen ruhmvolleren und minder leicht zu erringenden Kranz erringen, als an der Liebe, die alle Welt besinge. Mit großem Ernste, oft auch humoristisch scherzend, pflegte sie diesen Punkt mit vorzüglicher Vorliebe ihren Bekannten auseinanderzusetzen, und sichtbar gefiel sie sich in dieser Einsicht und gewählten Weise." Wir bemerken hierzu, daß, insofern in diesen Worten eine Geringschätzung der Liebe als poetischen Themas liegt, wir in ihnen nur ein objectives Verstandesurthcil der Dichterin erkennen können, durch welches sie einer entgegen¬ gesetzten Empfindung ihres Herzens, sie bekämpfend, entgegentrat. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird sich im Fortgange unserer Darstellung bewähren. Grenzboten II. 1830. SS

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/277
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/277>, abgerufen am 01.10.2024.