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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Bettler schleppt er sich in die Heimat und stirbt, im Bewußtsein der Vergebung
seiner Schuld. Da der Roßtäuscher eigentlich nie das Begehren hatte, reich, sondern
nur aus großer Armuth, großem Unglücke befreit zu werden, da er im Besitze
bedeutenden Vermögens immer von Reue erfüllt ist, wie die Dichterin ausdrück¬
lich am Schlüsse sagt: "Er liebte dich -- die Gottesmutter -- er liebte dich
in Sünd und Schmach", so fehlt die dramatische, die psychologisch-motivirte
Entwicklung, und wir bleiben kalt.

Dagegen ist der "Volksglaube in den Pyrenäen" ein poetisches Juwel.
"Siloesterfey" heißt das Thema des ersten Gedichts. Ein Mahl ist im einsamen
Zimmer für den Schicksalsgeist bereitet, der in der letzten Nacht des Jahres
durch die Häuser geht:


An ihrer Hand das Glück, Gewind'
Und Ros' im Lockenhaar, ein schlankes,
Das Mißgeschick ein fieberkrankes,
Ein weinend Kind.
Und trifft sie Alles recht zu Danke
Geordnet von der Frauenhand,
Dann nippt vom Mahle wohl die schlanke
Und läßt auch wohl ein heimlich Pfand;
Doch sollt' ein Frevler lauschen, risch,
Im Hui zerstorben ist die Scene,
Und scheidend fällt des Unglücks Thräne
Ans Herd und Tisch.

Die Bearnerin lauscht in der Kammer auf jedes Geräusch, hoffend und hangend;
neben ihr liegt ihr Knabe, in unruhigem Schlafe. Die Hände glühen, der
Schweiß bedeckt die Stirn, der anbrechende Morgen des neuen Jahres hat kein
Heil gebracht, die Mutter begrüßt ihn klagend:


Du lieber Gott, ist so geschwind,
Eh' noch der Morgenstrahl entglommen,
Das Unglück mir ins Hans gekommen
Als krankes Kind?

Im zweiten Gedicht "Münzkraut" sehen wir die sorgende Mutter, es ist zum
siebenten Mal, zum Münzkrautbeet auf dem Riff gehen. Auf Münzkraut hat
der Heiland gestanden, als er von Johannes die Taufe empfing, und deshalb
ist es mit Wunderkraft erfüllt. Brod, Salz und Wein legt sie als Opfergabe
in die Blätter. Neunmal muß sie den Weg machen; wenn dann die Münze
wellt, ist das Kind genesen. Das Gebet der Mutter, theils an Maria, theils
an das Münzkraut gerichtet, ist von ergreifender Innigkeit; und die Schlichtheit
des Tones sowie die Naivetät der Anschauung steigert die Kraft der Wirkung.
Jo'folgenden Gedichte "Der Bug Garan" sehen wir die Mutter im Kreise ihrer


Bettler schleppt er sich in die Heimat und stirbt, im Bewußtsein der Vergebung
seiner Schuld. Da der Roßtäuscher eigentlich nie das Begehren hatte, reich, sondern
nur aus großer Armuth, großem Unglücke befreit zu werden, da er im Besitze
bedeutenden Vermögens immer von Reue erfüllt ist, wie die Dichterin ausdrück¬
lich am Schlüsse sagt: „Er liebte dich — die Gottesmutter — er liebte dich
in Sünd und Schmach", so fehlt die dramatische, die psychologisch-motivirte
Entwicklung, und wir bleiben kalt.

Dagegen ist der „Volksglaube in den Pyrenäen" ein poetisches Juwel.
"Siloesterfey" heißt das Thema des ersten Gedichts. Ein Mahl ist im einsamen
Zimmer für den Schicksalsgeist bereitet, der in der letzten Nacht des Jahres
durch die Häuser geht:


An ihrer Hand das Glück, Gewind'
Und Ros' im Lockenhaar, ein schlankes,
Das Mißgeschick ein fieberkrankes,
Ein weinend Kind.
Und trifft sie Alles recht zu Danke
Geordnet von der Frauenhand,
Dann nippt vom Mahle wohl die schlanke
Und läßt auch wohl ein heimlich Pfand;
Doch sollt' ein Frevler lauschen, risch,
Im Hui zerstorben ist die Scene,
Und scheidend fällt des Unglücks Thräne
Ans Herd und Tisch.

Die Bearnerin lauscht in der Kammer auf jedes Geräusch, hoffend und hangend;
neben ihr liegt ihr Knabe, in unruhigem Schlafe. Die Hände glühen, der
Schweiß bedeckt die Stirn, der anbrechende Morgen des neuen Jahres hat kein
Heil gebracht, die Mutter begrüßt ihn klagend:


Du lieber Gott, ist so geschwind,
Eh' noch der Morgenstrahl entglommen,
Das Unglück mir ins Hans gekommen
Als krankes Kind?

Im zweiten Gedicht „Münzkraut" sehen wir die sorgende Mutter, es ist zum
siebenten Mal, zum Münzkrautbeet auf dem Riff gehen. Auf Münzkraut hat
der Heiland gestanden, als er von Johannes die Taufe empfing, und deshalb
ist es mit Wunderkraft erfüllt. Brod, Salz und Wein legt sie als Opfergabe
in die Blätter. Neunmal muß sie den Weg machen; wenn dann die Münze
wellt, ist das Kind genesen. Das Gebet der Mutter, theils an Maria, theils
an das Münzkraut gerichtet, ist von ergreifender Innigkeit; und die Schlichtheit
des Tones sowie die Naivetät der Anschauung steigert die Kraft der Wirkung.
Jo'folgenden Gedichte „Der Bug Garan" sehen wir die Mutter im Kreise ihrer


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[0255] Bettler schleppt er sich in die Heimat und stirbt, im Bewußtsein der Vergebung seiner Schuld. Da der Roßtäuscher eigentlich nie das Begehren hatte, reich, sondern nur aus großer Armuth, großem Unglücke befreit zu werden, da er im Besitze bedeutenden Vermögens immer von Reue erfüllt ist, wie die Dichterin ausdrück¬ lich am Schlüsse sagt: „Er liebte dich — die Gottesmutter — er liebte dich in Sünd und Schmach", so fehlt die dramatische, die psychologisch-motivirte Entwicklung, und wir bleiben kalt. Dagegen ist der „Volksglaube in den Pyrenäen" ein poetisches Juwel. "Siloesterfey" heißt das Thema des ersten Gedichts. Ein Mahl ist im einsamen Zimmer für den Schicksalsgeist bereitet, der in der letzten Nacht des Jahres durch die Häuser geht: An ihrer Hand das Glück, Gewind' Und Ros' im Lockenhaar, ein schlankes, Das Mißgeschick ein fieberkrankes, Ein weinend Kind. Und trifft sie Alles recht zu Danke Geordnet von der Frauenhand, Dann nippt vom Mahle wohl die schlanke Und läßt auch wohl ein heimlich Pfand; Doch sollt' ein Frevler lauschen, risch, Im Hui zerstorben ist die Scene, Und scheidend fällt des Unglücks Thräne Ans Herd und Tisch. Die Bearnerin lauscht in der Kammer auf jedes Geräusch, hoffend und hangend; neben ihr liegt ihr Knabe, in unruhigem Schlafe. Die Hände glühen, der Schweiß bedeckt die Stirn, der anbrechende Morgen des neuen Jahres hat kein Heil gebracht, die Mutter begrüßt ihn klagend: Du lieber Gott, ist so geschwind, Eh' noch der Morgenstrahl entglommen, Das Unglück mir ins Hans gekommen Als krankes Kind? Im zweiten Gedicht „Münzkraut" sehen wir die sorgende Mutter, es ist zum siebenten Mal, zum Münzkrautbeet auf dem Riff gehen. Auf Münzkraut hat der Heiland gestanden, als er von Johannes die Taufe empfing, und deshalb ist es mit Wunderkraft erfüllt. Brod, Salz und Wein legt sie als Opfergabe in die Blätter. Neunmal muß sie den Weg machen; wenn dann die Münze wellt, ist das Kind genesen. Das Gebet der Mutter, theils an Maria, theils an das Münzkraut gerichtet, ist von ergreifender Innigkeit; und die Schlichtheit des Tones sowie die Naivetät der Anschauung steigert die Kraft der Wirkung. Jo'folgenden Gedichte „Der Bug Garan" sehen wir die Mutter im Kreise ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/255>, abgerufen am 22.07.2024.