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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Kinder. Es ist Abend geworden, draußen tobt das Wetter. Das Brüderchen
schläft, die größeren Kinder werden zur Stille gemahnt, und die Mutter erzählt
vom Bug Garau, dem schrecklichen Wolf. Es ist eine rechte Märchenstunde,
und der Märchenton in den Erzählungen der Mutter ist wunderbar getroffen.
Ein heiteres Bild zeichnet sodann "Der Maisegen", die Frühlingsfeier der Be-
arner. "Die Hohlensey" vergegenwärtigt eine düstere, unholde Macht, von der
die Menschen Geld begehren. Sie giebt es, aber es gereicht ihnen nicht zum
Heil. "Johannisthau" heißt das letzte Gedicht. Der Thau am Morgen des
Johannistages ist heilkräftig. So läßt sich ein sast blindes Waisenkind hoff¬
nungsvoll in den frühen Tag führen und erbittet die Johanneshilfe:


Johannes, heiliger Prophet, ich kam
In deinem werthen Namen her und nahm
Von jenem Thaue, den im Wüstcnbrande
Die Wolke dir geträufelt, lau und lind,
Daß nicht dein Ange in dem heißen Sande,
Nicht dein gesegnet Auge werde blind.
Gepredigt hast du in der Steppenglut --
So weißt du auch, wie harte Arbeit thut;
Doch arm und nicht der Arbeit fähig sein,
Das ist gewiß die allergrößte Pein.
Du hast ja kaum geruht in Mutterarmen,
Warst früh ein elternlos, verwaistes Kind,
Woll eines armen Knaben dich erbarmen,
Der eine Waise ist, wie du, und blind!

Doch wenden wir uns wieder zu den größeren poetischen Erzählungen der
Dichterin. Sie zeichnen sich alle durch die große Kraft und Anschaulichkeit der
Darstellung aus, deren Gesammteindruck auch durch die Dunkelheit, die ihnen
hie und da anhaftet, nicht beeinträchtigt wird. Auch für den Gegenstand, für
die Handlung, werden wir auf das lebhafteste interessirt. Nur das Jugend¬
gedicht "Walther" nehmen wir von diesem Lobe ans. Die Persönlichkeiten, die
uns hier gezeichnet werde,:, tragen eigentlich nur eine menschliche Maske; in
Wirklichkeit sind es theils engelhafte Gestalten, aus Blumenduft und Mondes¬
strahlen gewoben, theils Teufel, aus dem Abgrund der Hölle aufgestiegen. Wir
verzichten darauf, den Inhalt dieser Erzählung bestimmter auszuführen, nur das
eine heben wir hervor, da es charakteristisch für die Neigung der Dichterin
zum Gewaltigen, Thatkräftigen ist: die trefflich gelungene Schilderung einer
Eberjagd. Dagegen haben die Dichtungen "Des Arztes Vermächtniß", "Das
Hospiz auf dem großen Se. Bernhard", "Die Schlacht im Loener Bruch" hohen
ästhetischen Werth. Der Erzählung "Des Arztes Vermächtniß" freilich nur in
formeller Hinficht. Es giebt in der deutschen Literatur außer Bürgers "Lenore"
kaum eine Dichtung, welche die Seele so tief erschüttert, ja mit Grauen erfüllt,


Kinder. Es ist Abend geworden, draußen tobt das Wetter. Das Brüderchen
schläft, die größeren Kinder werden zur Stille gemahnt, und die Mutter erzählt
vom Bug Garau, dem schrecklichen Wolf. Es ist eine rechte Märchenstunde,
und der Märchenton in den Erzählungen der Mutter ist wunderbar getroffen.
Ein heiteres Bild zeichnet sodann „Der Maisegen", die Frühlingsfeier der Be-
arner. „Die Hohlensey" vergegenwärtigt eine düstere, unholde Macht, von der
die Menschen Geld begehren. Sie giebt es, aber es gereicht ihnen nicht zum
Heil. „Johannisthau" heißt das letzte Gedicht. Der Thau am Morgen des
Johannistages ist heilkräftig. So läßt sich ein sast blindes Waisenkind hoff¬
nungsvoll in den frühen Tag führen und erbittet die Johanneshilfe:


Johannes, heiliger Prophet, ich kam
In deinem werthen Namen her und nahm
Von jenem Thaue, den im Wüstcnbrande
Die Wolke dir geträufelt, lau und lind,
Daß nicht dein Ange in dem heißen Sande,
Nicht dein gesegnet Auge werde blind.
Gepredigt hast du in der Steppenglut —
So weißt du auch, wie harte Arbeit thut;
Doch arm und nicht der Arbeit fähig sein,
Das ist gewiß die allergrößte Pein.
Du hast ja kaum geruht in Mutterarmen,
Warst früh ein elternlos, verwaistes Kind,
Woll eines armen Knaben dich erbarmen,
Der eine Waise ist, wie du, und blind!

Doch wenden wir uns wieder zu den größeren poetischen Erzählungen der
Dichterin. Sie zeichnen sich alle durch die große Kraft und Anschaulichkeit der
Darstellung aus, deren Gesammteindruck auch durch die Dunkelheit, die ihnen
hie und da anhaftet, nicht beeinträchtigt wird. Auch für den Gegenstand, für
die Handlung, werden wir auf das lebhafteste interessirt. Nur das Jugend¬
gedicht „Walther" nehmen wir von diesem Lobe ans. Die Persönlichkeiten, die
uns hier gezeichnet werde,:, tragen eigentlich nur eine menschliche Maske; in
Wirklichkeit sind es theils engelhafte Gestalten, aus Blumenduft und Mondes¬
strahlen gewoben, theils Teufel, aus dem Abgrund der Hölle aufgestiegen. Wir
verzichten darauf, den Inhalt dieser Erzählung bestimmter auszuführen, nur das
eine heben wir hervor, da es charakteristisch für die Neigung der Dichterin
zum Gewaltigen, Thatkräftigen ist: die trefflich gelungene Schilderung einer
Eberjagd. Dagegen haben die Dichtungen „Des Arztes Vermächtniß", „Das
Hospiz auf dem großen Se. Bernhard", „Die Schlacht im Loener Bruch" hohen
ästhetischen Werth. Der Erzählung „Des Arztes Vermächtniß" freilich nur in
formeller Hinficht. Es giebt in der deutschen Literatur außer Bürgers „Lenore"
kaum eine Dichtung, welche die Seele so tief erschüttert, ja mit Grauen erfüllt,


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[0256] Kinder. Es ist Abend geworden, draußen tobt das Wetter. Das Brüderchen schläft, die größeren Kinder werden zur Stille gemahnt, und die Mutter erzählt vom Bug Garau, dem schrecklichen Wolf. Es ist eine rechte Märchenstunde, und der Märchenton in den Erzählungen der Mutter ist wunderbar getroffen. Ein heiteres Bild zeichnet sodann „Der Maisegen", die Frühlingsfeier der Be- arner. „Die Hohlensey" vergegenwärtigt eine düstere, unholde Macht, von der die Menschen Geld begehren. Sie giebt es, aber es gereicht ihnen nicht zum Heil. „Johannisthau" heißt das letzte Gedicht. Der Thau am Morgen des Johannistages ist heilkräftig. So läßt sich ein sast blindes Waisenkind hoff¬ nungsvoll in den frühen Tag führen und erbittet die Johanneshilfe: Johannes, heiliger Prophet, ich kam In deinem werthen Namen her und nahm Von jenem Thaue, den im Wüstcnbrande Die Wolke dir geträufelt, lau und lind, Daß nicht dein Ange in dem heißen Sande, Nicht dein gesegnet Auge werde blind. Gepredigt hast du in der Steppenglut — So weißt du auch, wie harte Arbeit thut; Doch arm und nicht der Arbeit fähig sein, Das ist gewiß die allergrößte Pein. Du hast ja kaum geruht in Mutterarmen, Warst früh ein elternlos, verwaistes Kind, Woll eines armen Knaben dich erbarmen, Der eine Waise ist, wie du, und blind! Doch wenden wir uns wieder zu den größeren poetischen Erzählungen der Dichterin. Sie zeichnen sich alle durch die große Kraft und Anschaulichkeit der Darstellung aus, deren Gesammteindruck auch durch die Dunkelheit, die ihnen hie und da anhaftet, nicht beeinträchtigt wird. Auch für den Gegenstand, für die Handlung, werden wir auf das lebhafteste interessirt. Nur das Jugend¬ gedicht „Walther" nehmen wir von diesem Lobe ans. Die Persönlichkeiten, die uns hier gezeichnet werde,:, tragen eigentlich nur eine menschliche Maske; in Wirklichkeit sind es theils engelhafte Gestalten, aus Blumenduft und Mondes¬ strahlen gewoben, theils Teufel, aus dem Abgrund der Hölle aufgestiegen. Wir verzichten darauf, den Inhalt dieser Erzählung bestimmter auszuführen, nur das eine heben wir hervor, da es charakteristisch für die Neigung der Dichterin zum Gewaltigen, Thatkräftigen ist: die trefflich gelungene Schilderung einer Eberjagd. Dagegen haben die Dichtungen „Des Arztes Vermächtniß", „Das Hospiz auf dem großen Se. Bernhard", „Die Schlacht im Loener Bruch" hohen ästhetischen Werth. Der Erzählung „Des Arztes Vermächtniß" freilich nur in formeller Hinficht. Es giebt in der deutschen Literatur außer Bürgers „Lenore" kaum eine Dichtung, welche die Seele so tief erschüttert, ja mit Grauen erfüllt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/256>, abgerufen am 03.07.2024.