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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Wer hier wissen wir aus dem Munde der Dichterin selbst den Ursprung dieser
Stimmung. "Der allerdings sehr reizende See/' schreibt sie an ihren Freund
Junkmann, "machte mich immer traurig, weil ich den Rhein so durchfließen
sah nach Deutschland und Westfalen hinüber." Es war also das Heimweh, das
der Bodensee in ihrer Seele weckte.

Auf der Höhe, die Annelees Naturbilder erreichen, stehen ihre Balladen
nicht. Wohl weiß sie den rechten Ton für dergleichen zu treffen, aber die Klar¬
heit der Darstellung fehlt nicht selten. Auch ist der gewählte Stoff fast immer
so düster, daß diese Dichtungen uns wenig befriedigen. Ein und dasselbe Motiv,
das "zweite Gesicht", wird zu häufig verwendet. Die sogenannten Vorgeschichten,
die dem Halbwachen erscheinen, bilden mehrfach das Thema. Man könnte
daraus den Schluß ziehen, daß die Dichterin doch der romantischen Schule
angehöre und sich über ihre poetische Richtung und Gabe selbst getäuscht habe.
Doch wäre dieser Schluß voreilig. Das zweite Gesicht ist eine Eigenthümlich¬
keit ihres Stammes; die dichterische Berücksichtigung desselben kann also als zur
Localfarbe einer im Münsterlande spielenden Ballade gehörig angesehen werden.
Ueber diese wunderbare psychologische Erscheinung berichtet uns die Dichterin
selbst in den schon angeführten "Bildern aus Westfalen":

"Das Vorgesicht ist hier -- in? Münsterlande -- so gewöhnlich, daß, obwohl
die Gabe als eine höchst unglückliche eher geheim gehalten wird, man doch überall
auf notorisch damit Behaftete trifft, und im Grnnde fast kein Eingeborener sich
gänzlich davon freisprechen dürfte. Der Vorschauer (Vorgucker) im höheren
Grade ist auch äußerlich kenntlich an seinem hellblonden Haare, dem geisterhaften
Blitze der wasserblauen Augen und einer blassen oder überzarten Gesichtsfarbe;
übrigens ist er meistens gesund und im gewöhnlichen Leben häufig beschränkt und
ohne eine Spur von Ueberspannung. Seine Gabe überkommt ihn zu jeder Tages¬
zeit, am häufigsten jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich erwacht und von fieber¬
hafter Unruhe ins Freie oder ans Fenster getrieben wird; dieser Drang ist so stark,
daß ihm kaum Jemand widersteht, obwohl Jeder weiß, daß das Uebel durch Nach¬
geben bis zum Unerträglichen, zum völligen Entbehren der Nachtruhe, gesteigert
wird, wogegen fortgesetzter Widerstand es allmählich abnehmen und endlich ganz
verschwinden läßt. Der Vorschauer sieht Leichenzuge -- lange Hecreseolonnen
und Kämpfe -- er sieht deutlich den Pulverrauch und die Bewegungen der Fech¬
tenden, beschreibt genau ihre fremden Uniformen und Waffen, hört sogar Worte in
fremder Sprache, die er verstümmelt wiedergiebt, und die vielleicht erst lange nach
seinem Tode auf demselben Flecke wirklich gesprochen werden. - Der minder
Begabte und nicht bis zum Schauen Gesteigerte "hört" -- er hört den dumpfen
Hammerschlag auf dem Sargdeckel und das Rollen des Leichenwagens, hört den
Wasserkuren, das Wirbeln der Trommeln, das Trappeln der Rosse und den gleich¬
förmigen Tritt der marschirenden Colonnen. Er hört das Geschrei der Verun-


Grenzbvtm 15, 1880,

Wer hier wissen wir aus dem Munde der Dichterin selbst den Ursprung dieser
Stimmung. „Der allerdings sehr reizende See/' schreibt sie an ihren Freund
Junkmann, „machte mich immer traurig, weil ich den Rhein so durchfließen
sah nach Deutschland und Westfalen hinüber." Es war also das Heimweh, das
der Bodensee in ihrer Seele weckte.

Auf der Höhe, die Annelees Naturbilder erreichen, stehen ihre Balladen
nicht. Wohl weiß sie den rechten Ton für dergleichen zu treffen, aber die Klar¬
heit der Darstellung fehlt nicht selten. Auch ist der gewählte Stoff fast immer
so düster, daß diese Dichtungen uns wenig befriedigen. Ein und dasselbe Motiv,
das „zweite Gesicht", wird zu häufig verwendet. Die sogenannten Vorgeschichten,
die dem Halbwachen erscheinen, bilden mehrfach das Thema. Man könnte
daraus den Schluß ziehen, daß die Dichterin doch der romantischen Schule
angehöre und sich über ihre poetische Richtung und Gabe selbst getäuscht habe.
Doch wäre dieser Schluß voreilig. Das zweite Gesicht ist eine Eigenthümlich¬
keit ihres Stammes; die dichterische Berücksichtigung desselben kann also als zur
Localfarbe einer im Münsterlande spielenden Ballade gehörig angesehen werden.
Ueber diese wunderbare psychologische Erscheinung berichtet uns die Dichterin
selbst in den schon angeführten „Bildern aus Westfalen":

„Das Vorgesicht ist hier — in? Münsterlande — so gewöhnlich, daß, obwohl
die Gabe als eine höchst unglückliche eher geheim gehalten wird, man doch überall
auf notorisch damit Behaftete trifft, und im Grnnde fast kein Eingeborener sich
gänzlich davon freisprechen dürfte. Der Vorschauer (Vorgucker) im höheren
Grade ist auch äußerlich kenntlich an seinem hellblonden Haare, dem geisterhaften
Blitze der wasserblauen Augen und einer blassen oder überzarten Gesichtsfarbe;
übrigens ist er meistens gesund und im gewöhnlichen Leben häufig beschränkt und
ohne eine Spur von Ueberspannung. Seine Gabe überkommt ihn zu jeder Tages¬
zeit, am häufigsten jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich erwacht und von fieber¬
hafter Unruhe ins Freie oder ans Fenster getrieben wird; dieser Drang ist so stark,
daß ihm kaum Jemand widersteht, obwohl Jeder weiß, daß das Uebel durch Nach¬
geben bis zum Unerträglichen, zum völligen Entbehren der Nachtruhe, gesteigert
wird, wogegen fortgesetzter Widerstand es allmählich abnehmen und endlich ganz
verschwinden läßt. Der Vorschauer sieht Leichenzuge — lange Hecreseolonnen
und Kämpfe — er sieht deutlich den Pulverrauch und die Bewegungen der Fech¬
tenden, beschreibt genau ihre fremden Uniformen und Waffen, hört sogar Worte in
fremder Sprache, die er verstümmelt wiedergiebt, und die vielleicht erst lange nach
seinem Tode auf demselben Flecke wirklich gesprochen werden. - Der minder
Begabte und nicht bis zum Schauen Gesteigerte „hört" — er hört den dumpfen
Hammerschlag auf dem Sargdeckel und das Rollen des Leichenwagens, hört den
Wasserkuren, das Wirbeln der Trommeln, das Trappeln der Rosse und den gleich¬
förmigen Tritt der marschirenden Colonnen. Er hört das Geschrei der Verun-


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[0253] Wer hier wissen wir aus dem Munde der Dichterin selbst den Ursprung dieser Stimmung. „Der allerdings sehr reizende See/' schreibt sie an ihren Freund Junkmann, „machte mich immer traurig, weil ich den Rhein so durchfließen sah nach Deutschland und Westfalen hinüber." Es war also das Heimweh, das der Bodensee in ihrer Seele weckte. Auf der Höhe, die Annelees Naturbilder erreichen, stehen ihre Balladen nicht. Wohl weiß sie den rechten Ton für dergleichen zu treffen, aber die Klar¬ heit der Darstellung fehlt nicht selten. Auch ist der gewählte Stoff fast immer so düster, daß diese Dichtungen uns wenig befriedigen. Ein und dasselbe Motiv, das „zweite Gesicht", wird zu häufig verwendet. Die sogenannten Vorgeschichten, die dem Halbwachen erscheinen, bilden mehrfach das Thema. Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß die Dichterin doch der romantischen Schule angehöre und sich über ihre poetische Richtung und Gabe selbst getäuscht habe. Doch wäre dieser Schluß voreilig. Das zweite Gesicht ist eine Eigenthümlich¬ keit ihres Stammes; die dichterische Berücksichtigung desselben kann also als zur Localfarbe einer im Münsterlande spielenden Ballade gehörig angesehen werden. Ueber diese wunderbare psychologische Erscheinung berichtet uns die Dichterin selbst in den schon angeführten „Bildern aus Westfalen": „Das Vorgesicht ist hier — in? Münsterlande — so gewöhnlich, daß, obwohl die Gabe als eine höchst unglückliche eher geheim gehalten wird, man doch überall auf notorisch damit Behaftete trifft, und im Grnnde fast kein Eingeborener sich gänzlich davon freisprechen dürfte. Der Vorschauer (Vorgucker) im höheren Grade ist auch äußerlich kenntlich an seinem hellblonden Haare, dem geisterhaften Blitze der wasserblauen Augen und einer blassen oder überzarten Gesichtsfarbe; übrigens ist er meistens gesund und im gewöhnlichen Leben häufig beschränkt und ohne eine Spur von Ueberspannung. Seine Gabe überkommt ihn zu jeder Tages¬ zeit, am häufigsten jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich erwacht und von fieber¬ hafter Unruhe ins Freie oder ans Fenster getrieben wird; dieser Drang ist so stark, daß ihm kaum Jemand widersteht, obwohl Jeder weiß, daß das Uebel durch Nach¬ geben bis zum Unerträglichen, zum völligen Entbehren der Nachtruhe, gesteigert wird, wogegen fortgesetzter Widerstand es allmählich abnehmen und endlich ganz verschwinden läßt. Der Vorschauer sieht Leichenzuge — lange Hecreseolonnen und Kämpfe — er sieht deutlich den Pulverrauch und die Bewegungen der Fech¬ tenden, beschreibt genau ihre fremden Uniformen und Waffen, hört sogar Worte in fremder Sprache, die er verstümmelt wiedergiebt, und die vielleicht erst lange nach seinem Tode auf demselben Flecke wirklich gesprochen werden. - Der minder Begabte und nicht bis zum Schauen Gesteigerte „hört" — er hört den dumpfen Hammerschlag auf dem Sargdeckel und das Rollen des Leichenwagens, hört den Wasserkuren, das Wirbeln der Trommeln, das Trappeln der Rosse und den gleich¬ förmigen Tritt der marschirenden Colonnen. Er hört das Geschrei der Verun- Grenzbvtm 15, 1880,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/253>, abgerufen am 22.07.2024.