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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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der That ganz Recht, wenn er diesen Fall, staatsmännisch betrachtet, ein "Nachen
gespeust" nannte. Will man jedoch durchaus weitsichtige politische Conjecturen
ausspinnen, so ist auch im Hinblick auf solche Erwägungen noch zu Gunsten Englands
zu sagen, daß das germanische England eher berufen scheint, die stammverwandten
Hindu zu civilisiren und mit den Cultnrformen seines eigenthümlichen Lebens
zu durchtränken, als Rußland. Wenn man die ausgezeichneten Typen der Be¬
völkerung Indiens in dem kürzlich begonnenen Prachtwerke von Emil Schlag-
intweit "Indien in Wort und Bild" durchmustert und vergleicht, so merkt man
deutlich in diesen Gesichtszügen etwas von unserer alten Völkerfamilie. Ru߬
lands slavische Bevölkerung ist andererseits in einem großen Weltreiche theils
vermischt, theils eoordinirt mit Tartaren und Mongolen in ihren unzähligen
Abstufungen. Will Rußland in später Zukunft an große civilisatorische Aus¬
dehnung denken, so müssen doch gerade diese Völkerschaften am ehesten zu Nu߬
land gravitiren und von ihm seiner Cultur gemäß assimilirt werden können.
Was bei der tartarischen Bevölkerung, den Turkomanen, Usbegen, Kirgisen und
Osmanen möglich war und ferner noch möglich fein wird, warum sollte das
nicht auch für die Reiche mongolischer Bevölkerung möglich werden? Will
man noch weiter phantasiren, so müßte man es als Rußlands wenn auch fern¬
liegende Aufgabe hinstellen, in einem großen Weltreiche mit der Gefühlstiefe
des Slavismus die Intelligenz und physische Kraft der tartarischen Orientalen
und der nüchternen Energie der Mongolen zu verbinden, um daraus die Potenz
einer Bildung zu zeitigen, die den Gigantenkampf mit dem, was wir germa¬
nische Cultur nennen, aufnehmen können.

Aber wir wollen dem Verfasser des "Tancred" nicht ins Handwerk pfuschen.
Dem Leser wird es ohnehin einleuchten, wie utopisch und unmöglich es sein
würde, die Wiedererweckung der alten Cultur Indiens dem Slavismus zu
überantworten. So lange der Gedanke der germanischen Cultur noch nicht
erschöpft von der Bühne des Welttheaters abgetreten ist, so lange können sowohl
Vorder- wie Hinterindien nebst ihren Inseln durch die Kraft und den Geist
germanischer Bildung die Stufen neuer Entwicklung und Gesittung hinangeführt
werden. Es ist ein Zeichen der Zeit in dieser Richtung, daß das deutsche Reich
in Samoa eine erste ausländische Besitzergreifung im stillen Ocean vorgenommen
hat. Rußland ist ein Staat mit fröhlicher Werdekraft, es muß aber erst aus
sich selbst zu einer eigenthümlichen Blüthe der Bildung gekommen sein, ehe es
daran denken kann, die Stätten der höchsten alten Cultur mit neuem Leben zu
befruchten. Dem Orientalismus ist das Slaventhum gewachsen.

Sir Henry Rawlinson irrte, indem er die Gefahr eines Einfalles in Indien
überschätzte und hierin scheint uns sonach die Ansicht der Staatsmänner von
der wüstsrl^ inaetivit^ gerechtfertigt zu sein. Im Uebrigen sind die Rath-


der That ganz Recht, wenn er diesen Fall, staatsmännisch betrachtet, ein „Nachen
gespeust" nannte. Will man jedoch durchaus weitsichtige politische Conjecturen
ausspinnen, so ist auch im Hinblick auf solche Erwägungen noch zu Gunsten Englands
zu sagen, daß das germanische England eher berufen scheint, die stammverwandten
Hindu zu civilisiren und mit den Cultnrformen seines eigenthümlichen Lebens
zu durchtränken, als Rußland. Wenn man die ausgezeichneten Typen der Be¬
völkerung Indiens in dem kürzlich begonnenen Prachtwerke von Emil Schlag-
intweit „Indien in Wort und Bild" durchmustert und vergleicht, so merkt man
deutlich in diesen Gesichtszügen etwas von unserer alten Völkerfamilie. Ru߬
lands slavische Bevölkerung ist andererseits in einem großen Weltreiche theils
vermischt, theils eoordinirt mit Tartaren und Mongolen in ihren unzähligen
Abstufungen. Will Rußland in später Zukunft an große civilisatorische Aus¬
dehnung denken, so müssen doch gerade diese Völkerschaften am ehesten zu Nu߬
land gravitiren und von ihm seiner Cultur gemäß assimilirt werden können.
Was bei der tartarischen Bevölkerung, den Turkomanen, Usbegen, Kirgisen und
Osmanen möglich war und ferner noch möglich fein wird, warum sollte das
nicht auch für die Reiche mongolischer Bevölkerung möglich werden? Will
man noch weiter phantasiren, so müßte man es als Rußlands wenn auch fern¬
liegende Aufgabe hinstellen, in einem großen Weltreiche mit der Gefühlstiefe
des Slavismus die Intelligenz und physische Kraft der tartarischen Orientalen
und der nüchternen Energie der Mongolen zu verbinden, um daraus die Potenz
einer Bildung zu zeitigen, die den Gigantenkampf mit dem, was wir germa¬
nische Cultur nennen, aufnehmen können.

Aber wir wollen dem Verfasser des „Tancred" nicht ins Handwerk pfuschen.
Dem Leser wird es ohnehin einleuchten, wie utopisch und unmöglich es sein
würde, die Wiedererweckung der alten Cultur Indiens dem Slavismus zu
überantworten. So lange der Gedanke der germanischen Cultur noch nicht
erschöpft von der Bühne des Welttheaters abgetreten ist, so lange können sowohl
Vorder- wie Hinterindien nebst ihren Inseln durch die Kraft und den Geist
germanischer Bildung die Stufen neuer Entwicklung und Gesittung hinangeführt
werden. Es ist ein Zeichen der Zeit in dieser Richtung, daß das deutsche Reich
in Samoa eine erste ausländische Besitzergreifung im stillen Ocean vorgenommen
hat. Rußland ist ein Staat mit fröhlicher Werdekraft, es muß aber erst aus
sich selbst zu einer eigenthümlichen Blüthe der Bildung gekommen sein, ehe es
daran denken kann, die Stätten der höchsten alten Cultur mit neuem Leben zu
befruchten. Dem Orientalismus ist das Slaventhum gewachsen.

Sir Henry Rawlinson irrte, indem er die Gefahr eines Einfalles in Indien
überschätzte und hierin scheint uns sonach die Ansicht der Staatsmänner von
der wüstsrl^ inaetivit^ gerechtfertigt zu sein. Im Uebrigen sind die Rath-


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[0243] der That ganz Recht, wenn er diesen Fall, staatsmännisch betrachtet, ein „Nachen gespeust" nannte. Will man jedoch durchaus weitsichtige politische Conjecturen ausspinnen, so ist auch im Hinblick auf solche Erwägungen noch zu Gunsten Englands zu sagen, daß das germanische England eher berufen scheint, die stammverwandten Hindu zu civilisiren und mit den Cultnrformen seines eigenthümlichen Lebens zu durchtränken, als Rußland. Wenn man die ausgezeichneten Typen der Be¬ völkerung Indiens in dem kürzlich begonnenen Prachtwerke von Emil Schlag- intweit „Indien in Wort und Bild" durchmustert und vergleicht, so merkt man deutlich in diesen Gesichtszügen etwas von unserer alten Völkerfamilie. Ru߬ lands slavische Bevölkerung ist andererseits in einem großen Weltreiche theils vermischt, theils eoordinirt mit Tartaren und Mongolen in ihren unzähligen Abstufungen. Will Rußland in später Zukunft an große civilisatorische Aus¬ dehnung denken, so müssen doch gerade diese Völkerschaften am ehesten zu Nu߬ land gravitiren und von ihm seiner Cultur gemäß assimilirt werden können. Was bei der tartarischen Bevölkerung, den Turkomanen, Usbegen, Kirgisen und Osmanen möglich war und ferner noch möglich fein wird, warum sollte das nicht auch für die Reiche mongolischer Bevölkerung möglich werden? Will man noch weiter phantasiren, so müßte man es als Rußlands wenn auch fern¬ liegende Aufgabe hinstellen, in einem großen Weltreiche mit der Gefühlstiefe des Slavismus die Intelligenz und physische Kraft der tartarischen Orientalen und der nüchternen Energie der Mongolen zu verbinden, um daraus die Potenz einer Bildung zu zeitigen, die den Gigantenkampf mit dem, was wir germa¬ nische Cultur nennen, aufnehmen können. Aber wir wollen dem Verfasser des „Tancred" nicht ins Handwerk pfuschen. Dem Leser wird es ohnehin einleuchten, wie utopisch und unmöglich es sein würde, die Wiedererweckung der alten Cultur Indiens dem Slavismus zu überantworten. So lange der Gedanke der germanischen Cultur noch nicht erschöpft von der Bühne des Welttheaters abgetreten ist, so lange können sowohl Vorder- wie Hinterindien nebst ihren Inseln durch die Kraft und den Geist germanischer Bildung die Stufen neuer Entwicklung und Gesittung hinangeführt werden. Es ist ein Zeichen der Zeit in dieser Richtung, daß das deutsche Reich in Samoa eine erste ausländische Besitzergreifung im stillen Ocean vorgenommen hat. Rußland ist ein Staat mit fröhlicher Werdekraft, es muß aber erst aus sich selbst zu einer eigenthümlichen Blüthe der Bildung gekommen sein, ehe es daran denken kann, die Stätten der höchsten alten Cultur mit neuem Leben zu befruchten. Dem Orientalismus ist das Slaventhum gewachsen. Sir Henry Rawlinson irrte, indem er die Gefahr eines Einfalles in Indien überschätzte und hierin scheint uns sonach die Ansicht der Staatsmänner von der wüstsrl^ inaetivit^ gerechtfertigt zu sein. Im Uebrigen sind die Rath-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/243>, abgerufen am 22.07.2024.