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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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nen eroberten. Inzwischen hatte General Biddulph von Quella aus Kandcchar
eingenommen und war bis tief in das Innere des Landes siegreich vorgedrungen.
Allein beim Quella-Corps, welches 11590 Mann, darunter 3380 Europäer
betrug, waren während des Feldzuges 20000 Kamele dienstuntauglich geworden.
Das Schicksal Afghanistans war entschieden. Der neue englische Gesandte,
Major Cavagnari, zog am 24. Juli 1879 kraft eines bindenden Vertrages in
Cabul, wo ihm der Emir eine Wohnung im Palastviertel einräumte, feierlichst
ein. Bald darauf zeigte es sich, daß der englische Vertrag nur von der Haupt¬
stadt anerkannt wurde: Am 3. September wurde die Gesandtschaftswohnuug
vom Pöbel gestürmt und die Insassen niedergemacht. Sofort begann der Ein¬
marsch der Engländer aufs neue, und am 12. October nahmen sie Cabul ein.
Afghanistan wird nun ein Vasallenstaat des into-brittischen Reiches werden.

Aus der vorstehenden kurzen Skizze erhellt besser als aus langen Reflexio¬
nen, daß England sowohl wie Rußland, weniger um einen unruhigen Nachbar
niederzuhalten, als vielmehr in klarer Erkenntniß der Weltstellung Afgha¬
nistans, eifersüchtig ihren gegenseitigen Einfluß in diesem Lande geltend zu
machen suchten. Afghanistan ist das Bindeglied zwischen der indischen und der
westasiatischen Welt, und seine beherrschende Position an den Pässen zum frucht¬
baren Jndusthale und zu West-Iran bezeichnet seine großartige Bedeutung in der
Völkergeschichte Asiens. Mit Recht nennt Carl Ritter die Landschaften von
Kandcchar und Cabul das Durchzugsland nach Vorderasien. Alexander der
Große so gut wie der Schah Nadir (1738) mußten auf ihren indischen Erobe¬
rungszügen diese Straße verfolgen. Timur, der Beherrscher von Hochasien
(1398), mußte zuerst Herr von Cabul sein, um bis zum Ganges vordringen zu
können, und Baber-Khan, der Gründer des Mongolen-Reiches zu Delhi (1520),
sammelte zuerst seine Macht als Sultan von Cabnl. Das indische Sprichwort,
daß kein Mensch Herr von Hindostan werden könne, der nicht vorher Herr von
Cabul sei, beruht auf einer tiefen geschichtlichen Wahrheit. Volle Sicherheit
des Besitzes und Ruhe wird England in Indien erst dann beanspruchen können,
wenn es die Ausfallthore nach Indien in feinen Händen hat, d. h. wenn seine
Wedelten auf den Höhen der zahlreichen über den Hindukusch führenden Pässe
stehen, wenn es ferner Herr von Cabul und der aus dem Kurum in das Logar-
thal führenden Pässe bleiben wird. Andererseits wird, ohne irgend einen Werth
auf utopische Träumereien von der Eroberung Indiens durch Rußland zu legen,
doch eine unbefangene Betrachtung zu der Erkenntniß führen, daß auch für
Rußland die Kamm- und Paßhöhen des Hindukusch sowohl, als die ganze Ge¬
birgskette Cabul, Kandcchar, Kelat bis Bela (die beiden letzten Punkte in Belud-
schistan) die mit allen Mitteln angestrebte Grenze seiner centralasicitischen Be¬
sitzungen bilden. Diese thatsächliche Gleichheit der beiderseitigen Interessensphäre


nen eroberten. Inzwischen hatte General Biddulph von Quella aus Kandcchar
eingenommen und war bis tief in das Innere des Landes siegreich vorgedrungen.
Allein beim Quella-Corps, welches 11590 Mann, darunter 3380 Europäer
betrug, waren während des Feldzuges 20000 Kamele dienstuntauglich geworden.
Das Schicksal Afghanistans war entschieden. Der neue englische Gesandte,
Major Cavagnari, zog am 24. Juli 1879 kraft eines bindenden Vertrages in
Cabul, wo ihm der Emir eine Wohnung im Palastviertel einräumte, feierlichst
ein. Bald darauf zeigte es sich, daß der englische Vertrag nur von der Haupt¬
stadt anerkannt wurde: Am 3. September wurde die Gesandtschaftswohnuug
vom Pöbel gestürmt und die Insassen niedergemacht. Sofort begann der Ein¬
marsch der Engländer aufs neue, und am 12. October nahmen sie Cabul ein.
Afghanistan wird nun ein Vasallenstaat des into-brittischen Reiches werden.

Aus der vorstehenden kurzen Skizze erhellt besser als aus langen Reflexio¬
nen, daß England sowohl wie Rußland, weniger um einen unruhigen Nachbar
niederzuhalten, als vielmehr in klarer Erkenntniß der Weltstellung Afgha¬
nistans, eifersüchtig ihren gegenseitigen Einfluß in diesem Lande geltend zu
machen suchten. Afghanistan ist das Bindeglied zwischen der indischen und der
westasiatischen Welt, und seine beherrschende Position an den Pässen zum frucht¬
baren Jndusthale und zu West-Iran bezeichnet seine großartige Bedeutung in der
Völkergeschichte Asiens. Mit Recht nennt Carl Ritter die Landschaften von
Kandcchar und Cabul das Durchzugsland nach Vorderasien. Alexander der
Große so gut wie der Schah Nadir (1738) mußten auf ihren indischen Erobe¬
rungszügen diese Straße verfolgen. Timur, der Beherrscher von Hochasien
(1398), mußte zuerst Herr von Cabul sein, um bis zum Ganges vordringen zu
können, und Baber-Khan, der Gründer des Mongolen-Reiches zu Delhi (1520),
sammelte zuerst seine Macht als Sultan von Cabnl. Das indische Sprichwort,
daß kein Mensch Herr von Hindostan werden könne, der nicht vorher Herr von
Cabul sei, beruht auf einer tiefen geschichtlichen Wahrheit. Volle Sicherheit
des Besitzes und Ruhe wird England in Indien erst dann beanspruchen können,
wenn es die Ausfallthore nach Indien in feinen Händen hat, d. h. wenn seine
Wedelten auf den Höhen der zahlreichen über den Hindukusch führenden Pässe
stehen, wenn es ferner Herr von Cabul und der aus dem Kurum in das Logar-
thal führenden Pässe bleiben wird. Andererseits wird, ohne irgend einen Werth
auf utopische Träumereien von der Eroberung Indiens durch Rußland zu legen,
doch eine unbefangene Betrachtung zu der Erkenntniß führen, daß auch für
Rußland die Kamm- und Paßhöhen des Hindukusch sowohl, als die ganze Ge¬
birgskette Cabul, Kandcchar, Kelat bis Bela (die beiden letzten Punkte in Belud-
schistan) die mit allen Mitteln angestrebte Grenze seiner centralasicitischen Be¬
sitzungen bilden. Diese thatsächliche Gleichheit der beiderseitigen Interessensphäre


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[0236] nen eroberten. Inzwischen hatte General Biddulph von Quella aus Kandcchar eingenommen und war bis tief in das Innere des Landes siegreich vorgedrungen. Allein beim Quella-Corps, welches 11590 Mann, darunter 3380 Europäer betrug, waren während des Feldzuges 20000 Kamele dienstuntauglich geworden. Das Schicksal Afghanistans war entschieden. Der neue englische Gesandte, Major Cavagnari, zog am 24. Juli 1879 kraft eines bindenden Vertrages in Cabul, wo ihm der Emir eine Wohnung im Palastviertel einräumte, feierlichst ein. Bald darauf zeigte es sich, daß der englische Vertrag nur von der Haupt¬ stadt anerkannt wurde: Am 3. September wurde die Gesandtschaftswohnuug vom Pöbel gestürmt und die Insassen niedergemacht. Sofort begann der Ein¬ marsch der Engländer aufs neue, und am 12. October nahmen sie Cabul ein. Afghanistan wird nun ein Vasallenstaat des into-brittischen Reiches werden. Aus der vorstehenden kurzen Skizze erhellt besser als aus langen Reflexio¬ nen, daß England sowohl wie Rußland, weniger um einen unruhigen Nachbar niederzuhalten, als vielmehr in klarer Erkenntniß der Weltstellung Afgha¬ nistans, eifersüchtig ihren gegenseitigen Einfluß in diesem Lande geltend zu machen suchten. Afghanistan ist das Bindeglied zwischen der indischen und der westasiatischen Welt, und seine beherrschende Position an den Pässen zum frucht¬ baren Jndusthale und zu West-Iran bezeichnet seine großartige Bedeutung in der Völkergeschichte Asiens. Mit Recht nennt Carl Ritter die Landschaften von Kandcchar und Cabul das Durchzugsland nach Vorderasien. Alexander der Große so gut wie der Schah Nadir (1738) mußten auf ihren indischen Erobe¬ rungszügen diese Straße verfolgen. Timur, der Beherrscher von Hochasien (1398), mußte zuerst Herr von Cabul sein, um bis zum Ganges vordringen zu können, und Baber-Khan, der Gründer des Mongolen-Reiches zu Delhi (1520), sammelte zuerst seine Macht als Sultan von Cabnl. Das indische Sprichwort, daß kein Mensch Herr von Hindostan werden könne, der nicht vorher Herr von Cabul sei, beruht auf einer tiefen geschichtlichen Wahrheit. Volle Sicherheit des Besitzes und Ruhe wird England in Indien erst dann beanspruchen können, wenn es die Ausfallthore nach Indien in feinen Händen hat, d. h. wenn seine Wedelten auf den Höhen der zahlreichen über den Hindukusch führenden Pässe stehen, wenn es ferner Herr von Cabul und der aus dem Kurum in das Logar- thal führenden Pässe bleiben wird. Andererseits wird, ohne irgend einen Werth auf utopische Träumereien von der Eroberung Indiens durch Rußland zu legen, doch eine unbefangene Betrachtung zu der Erkenntniß führen, daß auch für Rußland die Kamm- und Paßhöhen des Hindukusch sowohl, als die ganze Ge¬ birgskette Cabul, Kandcchar, Kelat bis Bela (die beiden letzten Punkte in Belud- schistan) die mit allen Mitteln angestrebte Grenze seiner centralasicitischen Be¬ sitzungen bilden. Diese thatsächliche Gleichheit der beiderseitigen Interessensphäre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/236>, abgerufen am 22.07.2024.