Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

birgt natürlich den Keim zu fortwährenden Conflicten in sich, von welchen der
gegenwärtig scheinbar zu Gunsten Englands entschiedene nur der erste Act einer
großen kriegerischen Entwicklung der Zukunft sein dürfte.

Schon 1839 äußerte der Herzog von Wellington, daß für England erst
nach der Eroberung Afghanistans die eigentlichen Schwierigkeiten entstehen
würden. Rußland perhorrescirt die Annexion Afghanistans durch England und
überhaupt eine einseitige Regelung dieser Dinge. Uebrigens ist auch nicht
zu erwarten, daß der überaus kriegerische und freiheitsliebende Afghanenstamm sich
jetzt schon ohne weitere Gegenversuche endgiltig dem into-brittischen Reiche unter¬
werfen werde.

In England war man sich, vielleicht mehr als in Rußland, klar über die
Wichtigkeit des allmählichen Näherrückens der beiderseitigen Grenzen. Während
hüben und drüben über einen zukünftigen Angriff gegen das into-brittische
Reich gelehrt und ungelehrt parure wurde, schrieb schon im Juli 1868 Sir
H. Rawlinson ein Memorandum, das, der englischen Regierung unterbreitet,
nahezu den jetzt erfolgten wirklichen Gang der Begebenheiten in Centralasien
vorhersagte und ohne Zweifel auf die englischen Maßnahmen von entscheidenden
Einfluß gewesen ist. Das Programm der Politik von den "wissenschaftlichen
Grenzen" wurde hiermit inaugurirt.

Rawlinson geht davon aus, daß ein Vordringen Rußlands in Centralasien
gegen England gerichtet sei, und daß die zweifelsohne durch die russischen
Eroberungen in Turkestan für die Handelsbeziehungen geschaffenen günstigen
Resultate durch die politischen Gefahren und Nachtheile mehr als aufgewogen
würden. Einen besonderen Nachdruck legt er auf die wichtige Stellung Afgha¬
nistans für Indien. In Afghanistan müsse ausschließlich der Wille Englands
herrschen. Er stimmt Lord Auckland völlig bei, nach welchem in den nord¬
westlichen Grenzen Indiens eine starke und befreundete Macht errichtet werden
müsse. Die Politik des damaligen Vicekönigs von Indien Sir John Law¬
rence wird als eine Politik "meisterhafter Unthätigkeit" (roastsrl^ inaotivit^)
bezeichnet. Da die englische Herrschaft in Indien noch nicht auf so festen
Grundlagen errichtet sei, um jedem Angriffe und jeder drohenden Gefahr von
außen Trotz bieten zu können, so müsse in Afghanistan, welches ein natürliches
Bollwerk durch seine Gebirge und Flüsse gegen Indien bilde, die Stellung
Englands unangreifbar gemacht werden. Dies sei umsomehr nöthig, als die
im nördlichen Indien unterworfene, mit den afghanischen und turanischen Ele¬
menten stark gemischte Bevölkerung ein günstiges Feld für russische Intriguen
darbiete. Schließlich empfiehlt Rawlinson mit dürren Worten die Eroberung
Afghanistans und verlangt zunächst, daß man Quella besetze und die Verbin¬
dungen mit der afghanischen Grenze, deren Vertheidigungswerth unbestreitbar


Grenzboten II. 1S30. 30

birgt natürlich den Keim zu fortwährenden Conflicten in sich, von welchen der
gegenwärtig scheinbar zu Gunsten Englands entschiedene nur der erste Act einer
großen kriegerischen Entwicklung der Zukunft sein dürfte.

Schon 1839 äußerte der Herzog von Wellington, daß für England erst
nach der Eroberung Afghanistans die eigentlichen Schwierigkeiten entstehen
würden. Rußland perhorrescirt die Annexion Afghanistans durch England und
überhaupt eine einseitige Regelung dieser Dinge. Uebrigens ist auch nicht
zu erwarten, daß der überaus kriegerische und freiheitsliebende Afghanenstamm sich
jetzt schon ohne weitere Gegenversuche endgiltig dem into-brittischen Reiche unter¬
werfen werde.

In England war man sich, vielleicht mehr als in Rußland, klar über die
Wichtigkeit des allmählichen Näherrückens der beiderseitigen Grenzen. Während
hüben und drüben über einen zukünftigen Angriff gegen das into-brittische
Reich gelehrt und ungelehrt parure wurde, schrieb schon im Juli 1868 Sir
H. Rawlinson ein Memorandum, das, der englischen Regierung unterbreitet,
nahezu den jetzt erfolgten wirklichen Gang der Begebenheiten in Centralasien
vorhersagte und ohne Zweifel auf die englischen Maßnahmen von entscheidenden
Einfluß gewesen ist. Das Programm der Politik von den „wissenschaftlichen
Grenzen" wurde hiermit inaugurirt.

Rawlinson geht davon aus, daß ein Vordringen Rußlands in Centralasien
gegen England gerichtet sei, und daß die zweifelsohne durch die russischen
Eroberungen in Turkestan für die Handelsbeziehungen geschaffenen günstigen
Resultate durch die politischen Gefahren und Nachtheile mehr als aufgewogen
würden. Einen besonderen Nachdruck legt er auf die wichtige Stellung Afgha¬
nistans für Indien. In Afghanistan müsse ausschließlich der Wille Englands
herrschen. Er stimmt Lord Auckland völlig bei, nach welchem in den nord¬
westlichen Grenzen Indiens eine starke und befreundete Macht errichtet werden
müsse. Die Politik des damaligen Vicekönigs von Indien Sir John Law¬
rence wird als eine Politik „meisterhafter Unthätigkeit" (roastsrl^ inaotivit^)
bezeichnet. Da die englische Herrschaft in Indien noch nicht auf so festen
Grundlagen errichtet sei, um jedem Angriffe und jeder drohenden Gefahr von
außen Trotz bieten zu können, so müsse in Afghanistan, welches ein natürliches
Bollwerk durch seine Gebirge und Flüsse gegen Indien bilde, die Stellung
Englands unangreifbar gemacht werden. Dies sei umsomehr nöthig, als die
im nördlichen Indien unterworfene, mit den afghanischen und turanischen Ele¬
menten stark gemischte Bevölkerung ein günstiges Feld für russische Intriguen
darbiete. Schließlich empfiehlt Rawlinson mit dürren Worten die Eroberung
Afghanistans und verlangt zunächst, daß man Quella besetze und die Verbin¬
dungen mit der afghanischen Grenze, deren Vertheidigungswerth unbestreitbar


Grenzboten II. 1S30. 30
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0237" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146742"/>
          <p xml:id="ID_706" prev="#ID_705"> birgt natürlich den Keim zu fortwährenden Conflicten in sich, von welchen der<lb/>
gegenwärtig scheinbar zu Gunsten Englands entschiedene nur der erste Act einer<lb/>
großen kriegerischen Entwicklung der Zukunft sein dürfte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_707"> Schon 1839 äußerte der Herzog von Wellington, daß für England erst<lb/>
nach der Eroberung Afghanistans die eigentlichen Schwierigkeiten entstehen<lb/>
würden. Rußland perhorrescirt die Annexion Afghanistans durch England und<lb/>
überhaupt eine einseitige Regelung dieser Dinge. Uebrigens ist auch nicht<lb/>
zu erwarten, daß der überaus kriegerische und freiheitsliebende Afghanenstamm sich<lb/>
jetzt schon ohne weitere Gegenversuche endgiltig dem into-brittischen Reiche unter¬<lb/>
werfen werde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_708"> In England war man sich, vielleicht mehr als in Rußland, klar über die<lb/>
Wichtigkeit des allmählichen Näherrückens der beiderseitigen Grenzen. Während<lb/>
hüben und drüben über einen zukünftigen Angriff gegen das into-brittische<lb/>
Reich gelehrt und ungelehrt parure wurde, schrieb schon im Juli 1868 Sir<lb/>
H. Rawlinson ein Memorandum, das, der englischen Regierung unterbreitet,<lb/>
nahezu den jetzt erfolgten wirklichen Gang der Begebenheiten in Centralasien<lb/>
vorhersagte und ohne Zweifel auf die englischen Maßnahmen von entscheidenden<lb/>
Einfluß gewesen ist. Das Programm der Politik von den &#x201E;wissenschaftlichen<lb/>
Grenzen" wurde hiermit inaugurirt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_709" next="#ID_710"> Rawlinson geht davon aus, daß ein Vordringen Rußlands in Centralasien<lb/>
gegen England gerichtet sei, und daß die zweifelsohne durch die russischen<lb/>
Eroberungen in Turkestan für die Handelsbeziehungen geschaffenen günstigen<lb/>
Resultate durch die politischen Gefahren und Nachtheile mehr als aufgewogen<lb/>
würden. Einen besonderen Nachdruck legt er auf die wichtige Stellung Afgha¬<lb/>
nistans für Indien. In Afghanistan müsse ausschließlich der Wille Englands<lb/>
herrschen. Er stimmt Lord Auckland völlig bei, nach welchem in den nord¬<lb/>
westlichen Grenzen Indiens eine starke und befreundete Macht errichtet werden<lb/>
müsse. Die Politik des damaligen Vicekönigs von Indien Sir John Law¬<lb/>
rence wird als eine Politik &#x201E;meisterhafter Unthätigkeit" (roastsrl^ inaotivit^)<lb/>
bezeichnet. Da die englische Herrschaft in Indien noch nicht auf so festen<lb/>
Grundlagen errichtet sei, um jedem Angriffe und jeder drohenden Gefahr von<lb/>
außen Trotz bieten zu können, so müsse in Afghanistan, welches ein natürliches<lb/>
Bollwerk durch seine Gebirge und Flüsse gegen Indien bilde, die Stellung<lb/>
Englands unangreifbar gemacht werden. Dies sei umsomehr nöthig, als die<lb/>
im nördlichen Indien unterworfene, mit den afghanischen und turanischen Ele¬<lb/>
menten stark gemischte Bevölkerung ein günstiges Feld für russische Intriguen<lb/>
darbiete. Schließlich empfiehlt Rawlinson mit dürren Worten die Eroberung<lb/>
Afghanistans und verlangt zunächst, daß man Quella besetze und die Verbin¬<lb/>
dungen mit der afghanischen Grenze, deren Vertheidigungswerth unbestreitbar</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1S30. 30</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0237] birgt natürlich den Keim zu fortwährenden Conflicten in sich, von welchen der gegenwärtig scheinbar zu Gunsten Englands entschiedene nur der erste Act einer großen kriegerischen Entwicklung der Zukunft sein dürfte. Schon 1839 äußerte der Herzog von Wellington, daß für England erst nach der Eroberung Afghanistans die eigentlichen Schwierigkeiten entstehen würden. Rußland perhorrescirt die Annexion Afghanistans durch England und überhaupt eine einseitige Regelung dieser Dinge. Uebrigens ist auch nicht zu erwarten, daß der überaus kriegerische und freiheitsliebende Afghanenstamm sich jetzt schon ohne weitere Gegenversuche endgiltig dem into-brittischen Reiche unter¬ werfen werde. In England war man sich, vielleicht mehr als in Rußland, klar über die Wichtigkeit des allmählichen Näherrückens der beiderseitigen Grenzen. Während hüben und drüben über einen zukünftigen Angriff gegen das into-brittische Reich gelehrt und ungelehrt parure wurde, schrieb schon im Juli 1868 Sir H. Rawlinson ein Memorandum, das, der englischen Regierung unterbreitet, nahezu den jetzt erfolgten wirklichen Gang der Begebenheiten in Centralasien vorhersagte und ohne Zweifel auf die englischen Maßnahmen von entscheidenden Einfluß gewesen ist. Das Programm der Politik von den „wissenschaftlichen Grenzen" wurde hiermit inaugurirt. Rawlinson geht davon aus, daß ein Vordringen Rußlands in Centralasien gegen England gerichtet sei, und daß die zweifelsohne durch die russischen Eroberungen in Turkestan für die Handelsbeziehungen geschaffenen günstigen Resultate durch die politischen Gefahren und Nachtheile mehr als aufgewogen würden. Einen besonderen Nachdruck legt er auf die wichtige Stellung Afgha¬ nistans für Indien. In Afghanistan müsse ausschließlich der Wille Englands herrschen. Er stimmt Lord Auckland völlig bei, nach welchem in den nord¬ westlichen Grenzen Indiens eine starke und befreundete Macht errichtet werden müsse. Die Politik des damaligen Vicekönigs von Indien Sir John Law¬ rence wird als eine Politik „meisterhafter Unthätigkeit" (roastsrl^ inaotivit^) bezeichnet. Da die englische Herrschaft in Indien noch nicht auf so festen Grundlagen errichtet sei, um jedem Angriffe und jeder drohenden Gefahr von außen Trotz bieten zu können, so müsse in Afghanistan, welches ein natürliches Bollwerk durch seine Gebirge und Flüsse gegen Indien bilde, die Stellung Englands unangreifbar gemacht werden. Dies sei umsomehr nöthig, als die im nördlichen Indien unterworfene, mit den afghanischen und turanischen Ele¬ menten stark gemischte Bevölkerung ein günstiges Feld für russische Intriguen darbiete. Schließlich empfiehlt Rawlinson mit dürren Worten die Eroberung Afghanistans und verlangt zunächst, daß man Quella besetze und die Verbin¬ dungen mit der afghanischen Grenze, deren Vertheidigungswerth unbestreitbar Grenzboten II. 1S30. 30

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/237
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/237>, abgerufen am 03.07.2024.