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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Es kann unmöglich in unserer Absicht liegen, eine genaue Inhaltsangabe
eines so reichhaltigen Werkes, das allein gegen 500 Schriftsteller aufzählt, zu
liefern. Nur auf Einiges von dem Hervorragendsten soll aufmerksam gemacht
werden.

Aus der ältesten Zeit interessiren uns am meisten die beiden Edda's, die
Skaldenpoesie und die Sagaliteratnr. "Edda", ein altskandinavisches Wort, be¬
deutet "Großmutter" (besser "Urgroßmutter"), sicherlich eine sehr sinnige Bezeich¬
nung für das Buch, welches den nachgewachsenen Geschlechtern Erzählungen
aus längst vergangenen Zeiten vorträgt, gleich wie es eine leibliche Großmutter
im Kreise ihrer Enkel thut, nur daß jene Buch-Großmutter wie ein jugend¬
frisches, rosiges Mägdlein erscheint, das mit der menschlichen Großmutter nichts
weiter als die Erinnerung an eine weit zurückliegende Vergangenheit gemein
hat. Der Name ist zunächst wahrscheinlich der sogenannten jüngeren oder pro¬
saischen Edda gegeben und von ihr auf die ältere oder poetische Edda übertragen
worden. Die jüngere ist eine Poetik, ein Leitfaden für junge Männer, die sich
zu Dichtern heranbilden wollten. In sie sind mythologische und heroische Er¬
zählungen eingeflochten, deren Kenntniß dem alten skandinavischen Dichter zu
seiner Kunst unentbehrlich war. Die ältere Edda enthält in ihrem ersten Theile
eine Reihe mythologischer Lieder über die Entstehung der Welt und ihren
Untergang (Götterdämmerung), über Abenteuer einzelner Götter und über
Lebensweisheit. Der zweite Theil besteht aus Heldenliedern, die vorzugsweise
der Nibelungensage angehören. Die Liederedda und die Erzählungen der jün¬
geren Edda liegen uus schon lange in Simrocks Uebersetzung vor. Die Partie
über die ältere Edda bei Horn hat uns nicht ganz befriedigt. Es hätte
mehr auf ihren Inhalt eingegangen, zum mindesten aber durchgehends eine
Erklärung der einzelnen Liedertitel gegeben werden müssen.

Das Wunderlichste von Poesie, was jemals zu Tage gefördert worden, ist
die skandinavische Skaldenpoesie. "Statt" ist die nordische Bezeichnung für
unfer aus dem Lateinischen stammendes Wort "Dichter". Man hat bei den
altskandinavischen Statten keineswegs an eine Dichterkaste zu denken, etwa nach
Art der keltischen Barden. Statt wurde, wer genug Phantasie besaß, die
Sprache, Mythologie und Metrik mit solcher Gewandtheit beherrschte, daß er
im Augenblick, selbst auf Wunsch Andrer und über ein beliebig gestelltes Thema,
zu extemporiren verstand. Es sind uns eine große Zahl Namen solcher Dichter
und eine beträchtliche Menge einzelner ihrer Strophen oder auch ganzer Ge-
dichte überliefert. Diese Statten stammen zum großen Theil ans Island.
In der Regel verließen sie ihre Heimat, um die Welt kennen zu lernen, sich
Reichthum, Ruhm, Ehre oder vornehmen Rang zu erwerben. Meist besuchten
sie die Höfe der skandinavischen Fürsten in Norwegen, Schweden, Dänemark


Es kann unmöglich in unserer Absicht liegen, eine genaue Inhaltsangabe
eines so reichhaltigen Werkes, das allein gegen 500 Schriftsteller aufzählt, zu
liefern. Nur auf Einiges von dem Hervorragendsten soll aufmerksam gemacht
werden.

Aus der ältesten Zeit interessiren uns am meisten die beiden Edda's, die
Skaldenpoesie und die Sagaliteratnr. „Edda", ein altskandinavisches Wort, be¬
deutet „Großmutter" (besser „Urgroßmutter"), sicherlich eine sehr sinnige Bezeich¬
nung für das Buch, welches den nachgewachsenen Geschlechtern Erzählungen
aus längst vergangenen Zeiten vorträgt, gleich wie es eine leibliche Großmutter
im Kreise ihrer Enkel thut, nur daß jene Buch-Großmutter wie ein jugend¬
frisches, rosiges Mägdlein erscheint, das mit der menschlichen Großmutter nichts
weiter als die Erinnerung an eine weit zurückliegende Vergangenheit gemein
hat. Der Name ist zunächst wahrscheinlich der sogenannten jüngeren oder pro¬
saischen Edda gegeben und von ihr auf die ältere oder poetische Edda übertragen
worden. Die jüngere ist eine Poetik, ein Leitfaden für junge Männer, die sich
zu Dichtern heranbilden wollten. In sie sind mythologische und heroische Er¬
zählungen eingeflochten, deren Kenntniß dem alten skandinavischen Dichter zu
seiner Kunst unentbehrlich war. Die ältere Edda enthält in ihrem ersten Theile
eine Reihe mythologischer Lieder über die Entstehung der Welt und ihren
Untergang (Götterdämmerung), über Abenteuer einzelner Götter und über
Lebensweisheit. Der zweite Theil besteht aus Heldenliedern, die vorzugsweise
der Nibelungensage angehören. Die Liederedda und die Erzählungen der jün¬
geren Edda liegen uus schon lange in Simrocks Uebersetzung vor. Die Partie
über die ältere Edda bei Horn hat uns nicht ganz befriedigt. Es hätte
mehr auf ihren Inhalt eingegangen, zum mindesten aber durchgehends eine
Erklärung der einzelnen Liedertitel gegeben werden müssen.

Das Wunderlichste von Poesie, was jemals zu Tage gefördert worden, ist
die skandinavische Skaldenpoesie. „Statt" ist die nordische Bezeichnung für
unfer aus dem Lateinischen stammendes Wort „Dichter". Man hat bei den
altskandinavischen Statten keineswegs an eine Dichterkaste zu denken, etwa nach
Art der keltischen Barden. Statt wurde, wer genug Phantasie besaß, die
Sprache, Mythologie und Metrik mit solcher Gewandtheit beherrschte, daß er
im Augenblick, selbst auf Wunsch Andrer und über ein beliebig gestelltes Thema,
zu extemporiren verstand. Es sind uns eine große Zahl Namen solcher Dichter
und eine beträchtliche Menge einzelner ihrer Strophen oder auch ganzer Ge-
dichte überliefert. Diese Statten stammen zum großen Theil ans Island.
In der Regel verließen sie ihre Heimat, um die Welt kennen zu lernen, sich
Reichthum, Ruhm, Ehre oder vornehmen Rang zu erwerben. Meist besuchten
sie die Höfe der skandinavischen Fürsten in Norwegen, Schweden, Dänemark


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/204>, abgerufen am 22.07.2024.